Hendlmord: Ein Starnberger-See-Krimi (German Edition)
gegangen ist. Wie man es bei Komapatienten macht, mit denen soll man auch reden. «Werd schnell wieder gesund, ja?» Ich stelle ihm die Geschenkschachtel, die mir die
Gemeinsam Dabeiseier
für ihn mitgegeben haben, aufs Nachtkästchen. «Der Busschlüssel ist auf der Wiese gelegen. Ich übernehm deine Fahrt, aber das nächste Mal bist du wieder dran, ausgemacht?» Ich setze ihm sein Franzosenkappi auf und lege die Maltasche auf die Tablettenablage. Ganz schwach, fast unmerklich, nickt er mir zu.
Die geplante Route wird schnell geändert, da es für den ursprünglichen Ausflug, wo auch immer der hingehen sollte, das sagen sie mir nicht, an diesem Tag nicht mehr reicht. Grenze und Österreich, hab ich herausgehört, vielleicht täusche ich mich auch. Aber es soll noch einer sagen, alte Leute seien nicht flexibel. Blitzschnell stecken sie die Köpfe zusammen, tuscheln und schwupp, wissen sie, wo es stattdessen hingehen soll. Nach München wollen sie also. Ich bin direkt erleichtert. Den Weg kennt der Daimler fast allein, weil der Fidl da mindestens eine weibliche Bekanntschaft drin hat. Das schaffen wir locker. Da können sich die Altpöckinger ihre Taschen auf dem Viktualienmarkt füllen, ein Salzgürkchen verdrücken und eine Ausgezogene mampfen oder meinetwegen ein Haferl Kaffee beim Dallmayr schlürfen und schwupp, geht’s wieder zurück. Nur der Rossi meckert, aber der Melcher schlägt vor, ich soll den Rossi einfach vorher absetzen. Das ist auch kein Problem. Überhaupt wirken sie viel umtriebiger als sonst, geradezu lebensfroh. Das war nicht immer so. Anfang des Jahres, als die Ingrid, die Gründerin von
Gemeinsam Dabeisein,
starb, da glaubten die restlichen Pöckinger, es käme zu einem kollektiven Selbstmord, so schlecht waren ihre Väter und Mütter drauf. Wie schlecht, das weiß ich vom Fidl, der hat’s mir eines Abends erzählt. Ich saß mit meiner Apfelschorle auf dem Bussofa, da wo die Emma jetzt schläft, und er mit seinem Rotwein auf einem Hocker. Dass die Ingrid sich vor die S-Bahn geschmissen hat, das hat alle depressiv gemacht, als hätte sich was von ihrer Todessehnsucht auf alle anderen übertragen. In Pöcking hieß es schon, der ganze Verein würde aufgelöst werden – ohne Ingrid keine Zukunft. Die Ingrid hat eben nicht nur den ganzen Bürokram verwaltet, sondern auch die Pflege übernommen. Nicht alle Senioren sind noch so fit wie die Koch- und Strickriege, die im alten Rathaus fuhrwerkt. Der eine oder andere wird schon mal von einer Krankheit niedergestreckt oder steht nach einer Verletzung nicht mehr auf. Dazu die Finger- und Fußpflege, auch das Gröbere in der Mitte, Windelwechseln und so. Mit den Medikamenten kannte sich die Ingrid aus, wann wer zu viel und wann zu wenig schluckte. Außerdem hatte sie immer ein Ohr für Sorgen aller Art, hat sich die Kindheitserinnerungen und Geschichten aus der guten und weniger guten Zeit angehört, sich auch mal Familienmitglieder vorgeknöpft und so manche Versöhnung angeschubst. Verwalterin, Pflegerin, Seelsorgerin, Partnervermittlerin, Familientherapeutin, alles in einer Person. Wahrscheinlich hat sie sich in ihrem «ständig nur für andere da sein» selbst verloren, das vermutete der Fidl zumindest. Jung und hübsch war sie auch noch, jedenfalls aus Sicht der Achtzigjährigen, für die war die Ingrid mit ihren dreiundfünfzig ein Backfisch. Das verbindende Glied, sozusagen der Wollfaden bei den Strick- und Mensch-ärgere-dich-Nachmittagen. Der Fidl hätte mir das nicht erzählt, wenn es ihn nicht selbst so belastet hätte, der muss so Worte über Gefühle erst in einer Rotweinflasche drin finden. Drei, vier Flaschen dauert das dann meist, jede Menge Rebenblut, bis er sich was Inneres abpresst. Nach der Ingrid ihrer Beerdigung war also erst mal ein Stimmungstief. Doch dann öffneten sich die Vorhänge im Alten Rathaus plötzlich wieder, frisch gewaschen und gestärkt, und die Senioren fingen an, um ihren Verein zu kämpfen. Kaum war der letzte Schnee endgültig geschmolzen und der Pöckinger Faschingsprinz beerdigt, machten sie alleine weiter, als hätten sie auf einmal begriffen, dass sie, nur weil sie aus der Arbeitswelt weitgehend ausgeschieden waren, noch lange nicht zum alten Eisen gehörten. Sie verteilten einfach die Aufgaben. Jetzt kümmert sich der Rossi um die Finanzen, und der Panscher schaut, dass es allen gesundheitlich gut geht. Blutdruck, Kreislauftabletten, Klosterfrau Melissengeist, so Zeug. Jeder passt nun auf den anderen
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