Hendlmord: Ein Starnberger-See-Krimi (German Edition)
einen Stadtbummel verzichten wir. Erstens ist meine Tochter krank, und wir wollen nicht die ganze Fußgängerzone anstecken. Das geht in so einer Stadt ratzfatz, wo kaum Luft ist zwischen einem Fremden zum nächsten, die beatmen sich quasi selbst, wenn sie so aneinander vorbeischlendern. Zweitens stresst es mich, zu so vielen Menschen «Grüß Gott» sagen zu müssen. Nach der einen Rolltreppenfahrt im Kaufhaus ist mein Kiefer schon ausgeleiert, auch wenn ich mit der Zeit auf «S’Go» abgekürzt habe. Und glaubt man das, nur selten grüßt einer zurück! Zugegeben, es waren auch ein Haufen Japaner dabei, die mehr genickt haben als gesprochen. Lieber kaufen wir uns auf dem Rückweg Brotzeit und schlendern langsam in Richtung Parkhaus zurück. Halt, auf den Alten Peter könnten wir steigen und uns die Stadtleute als Ameisen anschauen. Wir kraxeln also die 306 Stufen hinauf. Erst merke ich, dass ich Knie habe, dann, dass ich über vierzig bin, und zuletzt keuche ich nur noch an der Glockenstube vorbei und zieh mich am Geländer hoch. Emma springt wie ein Zicklein um mich herum, treppauf, treppab, von Krankheit keine Spur. Dafür werden wir oben auf sechsundfünfzig Metern belohnt. Sobald ich wieder zu Atem gelange, rapple ich mich auf und schaue ins Land. Der Föhn, also nicht der von der Kaufhaustür, sondern der windige Naturföhn aus den Alpen, schenkt uns ein weiten Blick. Ganz hinten am Horizont, wo die Weltkugel einen Buckel macht, erkenne ich die Seepferdchenform vom Starnberger See. In meiner Brust zieht es köstlich, wie ich meine wunderschöne Heimat so fern und scheinbar zum Greifen nah erblicke. Alle Berge lugen zu uns herauf. Die Zugspitze, die Alpspitze, und seitlich links erahne ich die Benediktenwand, meinen Lieblingsgipfel. Dort, bei der Tutzinger Hütte, hab ich die Sophie kennengelernt. Kurz vorm Kreislaufzusammenbruch ist sie an einem Fels gelehnt, und ich hab ihr einen Traubenzucker angeboten. Einfach so, und schon hat’s gefunkt. Den restlichen Aufstieg haben wir beide kaum noch gemerkt, weil wir uns so viel zu erzählen hatten.
«Und schau, Emma.» Ich deute in die Ferne. «Der winzige Fliegenschiss am Westufer, also rechts von uns aus gesehen, zwischen den Bäumen, ist der Sankt-Pius-Kirchturm von Pöcking.»
«Wo? Ich seh nichts.» Meine Tochter reckt sich am Gitter hoch.
«Da drüben, direkt unter der Zugspitze.»
«Ich seh keinen Zug.»
«Nein, ich mein doch nicht den Zug, ich meine den höchsten Berg Deutschlands, der heißt Zugspitze, das hat sich ein Landvermesser ausgedacht, warum auch immer.»
«Vielleicht weil er wie von einer Lokomotive dann von ganz vorne ins Land schauen konnte?», schlägt Emma vor.
Sie ist gescheit, meine Tochter, ich hebe sie hoch, damit sie alles betrachten kann. Ja, ich gebe zu, dass ich mir mein Pöcking eher hindenke, als dass du es wirklich erkennen kannst. Aber dort ist es, unverrückbar, egal wie weit ich von meinem Geburtsort getrennt werde.
Auf dem Rückweg ins Parkhaus kaufen wir uns Proviant bei einem Imbiss auf der Sendlinger Straße. Dann brotzeiteln wir gemütlich unter der heimeligen Innenbeleuchtung im Bus. Der Fidl behauptet, den grünen Lüster mit den Glasperlenschnüren bei einer seiner Liebestouren aus einer Pariser Mühle abgestaubt zu haben. Wir schlecken Eis, mampfen Pizza und spielen Backgammon. Ich habe allerdings das Gefühl, Emma sieht meine Spielzüge voraus und lässt mich trotzdem gewinnen. Wie ich mir gerade auf dem Kanapee ein Nickerchen gönnen will, um ein bisschen von dem ganzen Denksport und den vielen neuen Eindrücken zu entspannen, wird die Bustür aufgerissen. Nicht schon wieder der Parkwächter, der war vorhin da und dachte, wir sind Penner, die mal von einer Brücke in ein Autohausdach wechseln wollen. Aber nein, die Gretl ist es, ihren Rollatorkorb vollbepackt, und nach und nach trudelt der restliche Trupp ebenfalls mit vollen Taschen ein. Verschwitzt, die Hemdkragen und Blusen aufgeknöpft, die Jacken um die Hüften gebunden, fröhlich und gesund kehren alle zurück. Gigantische Tüten mit neuen Kopfkissen zerren sie in den Bus, als seien die mit Blei gefüllt. Ich biete mich beim Verladen an, aber die Melcher Manuela und die Ayşe geben ihre Beute nicht aus der Hand. Schachtelweise Spielzeug für die Enkelkinder haben sie auch eingekauft. Dazu die Wunschlisten der Daheimgebliebenen abgearbeitet. Der Pflaum hat seiner Pflaume ein Bernsteinkollier zwischen das Doppelkinn gehakt. Der Bene und der Melcher
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