Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
ja eh zu kalt. Ehrlich gesagt war ich ziemlich dankbar für diesen Vorschlag. Die Aussicht, nicht alleine nach Hause gehen zu müssen, war schon sehr verlockend, und dann auch noch in den schwer schönen Rembrandt-Armen von Dieter zu schlafen, angelehnt an sein Segelschiff, von dem ich ja wusste, dass es die ganze Nacht unter den langen Ärmeln seines Sweatshirts dahinsegeln würde … hmmm.
Wir haben uns in unseren Anziehsachen in Dieters Schlafsack gezwängt wie die Ölsardinen und auf das superschmale Feldbett gelegt. Dieter lag an meinem Rücken, ich konnte ihn riechen und er roch gut. Wir sind gleich eingeschlafen und ich weiß noch, dass ich tief und fest und gut geschlafen habe in Dieters Armen. Wie in Abrahams Schoß.
Am nächsten Morgen bin ich davon aufgewacht, dass ich mich beobachtet fühlte. Ich hab mit Absicht die Augen zugelassen, weil ich dachte, wahrscheinlich ist Dieter aufgestanden und schaut mich an. Ich wollte ihm zuliebe so tun, als würde ich es nicht merken, aber dann hab ich doch gelächelt, damit er sieht, dass ich wach bin. Aber da hab ich plötzlich gespürt, dass der Dieter immer noch hinter mir lag. Da hab ich dann die Augen aufgemacht und mich umgesehen: Es war niemand bei uns im Loft, aber die Holzlattentür mit den vielen Ritzen wurde plötzlich ganz hell, als hätte jemand davorgestanden und würde jetzt weglaufen. Dann hörte ich Schritte im Treppenhaus, die immer leiser wurden.
Lisa – das konnte nur Lisa gewesen sein, fuhr es mir durch den Kopf und der Gedanke weckte mich schlagartig, weil sie das natürlich richtig scheiße finden würde, dass ich bei Dieter geschlafen hatte … Andererseits war ja nun wirklich gar nichts passiert mit Dieter, und Lisa hätte allen Grund gehabt, ruhig zu bleiben, es sah ja nach mehr aus, als es war.«
»Sie fürchteten sich vor Lisas Eifersucht?«, fragt die Palmenberg.
»Ja, schon. Sie ist ja meine Freundin gewesen, zu diesem Zeitpunkt immer noch, und es gehört sich ja nicht, seiner Freundin den Liebhaber auszuspannen, oder?«
»Es gehört sich nicht?«
»Nein, tut es nicht. Ich möchte auch nicht, dass meine Freundinnen mir meine Liebhaber ausspannen!«
»Aber es kommt vor, oder?«
»Woher wissen Sie das?«
»Was? Woher weiß ich was?«
»Na, das mit den Freundinnen und den Liebhabern?«
»Also es
ist
tatsächlich vorgekommen!?«
»Ja, allerdings! Das ist ja das Fiese! Ich kriegte sofort die Quittung für meine Nacht mit Dieter.«
Traurig grinst die Palmenberg über ihren Schreibblock hinweg auf das Beistelltischchen mit der Murano-Vase und den frischen Lilien darin und sagt leise: »Oh Gott, Hendrikje, Sie haben einen tätowierten Räuber im Bett, behalten Ihren Anorak an und nennen das eine ›Nacht mit Dieter‹?«
5
Was hätten Sie lieber? Das alte Jahr noch mal oder lieber doch ein neues? Oder das alte Jahr noch mal mit dem besseren Wissen der im alten Jahr gemachten Erfahrungen? Auja! denkt wahrscheinlich jeder, ich könnte am 11. September gleich zum Frühstück die Glotze anmachen und live dabei sein, wenn sie in die Twin Towers krachen! … Aber nee, wären sie ja gar nicht, weil das Bodenpersonal in Boston gewusst hätte, was die Jungs vorhatten, und sie gar nicht erst hätte einsteigen lassen. So ist das nämlich. Anstatt dass alles besser passierte, passierte nichts.
Jeder Selbstbetrug fängt nicht etwa damit an, dass die Menschen an etwas glauben, sondern damit, dass sie nicht glauben.
›Lady, dieses Schiff kann nicht einmal Gott versenken‹, soll ein Matrose einer Dame gesagt haben, die sich plötzlich zierte, sich wie geplant auf der Titanic einzuschiffen. Das Theater im Hafen von Southampton kann sich jeder leicht vorstellen: der Ehemann sofort sauer, dass seine Alte Zicken macht. Die Tickets haben ein Vermögen gekostet, man hat sich für die Reise neu eingekleidet und sich auf Wunsch von Madame (!) im feinsten Hotel New Yorks angemeldet, die Geschäftspartner warten, aber Madame ist plötzlich empfindsam und hat gar kein gutes Gefühl. Eine Scheidungskrise droht, das ist Madame sofort klar, wenn sie ihren Ehemann nur ansieht, und in Blitzgeschwindigkeit läuft in ihrem Kopf der Kurzfilm ab:
Wie ich im London des Jahres 1912 als geschiedene Frau im Allgemeinen und unter besonderer Berücksichtigung der Opernsaison leben werde.
Da sind die Vorwürfe der Eltern zu bedenken, der Verlust des Sorgerechts für das Kind, das beengte Leben in einem kleinen Apartment ohne Personal, die knappe Apanage, die
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