Henningstadt
verbracht.
«Komm!», sagt Steffen. Schnell gehen sie durch die Tür und ziehen sie hinter sich zu.
Das wäre geschafft. Licht gibt es auch. Sie gehen eine Art Treppenhaus hoch. Zwei Stockwerke vielleicht. Dann erreicht man die Empore, und es wird wirklich eng. Das Turmtreppenhaus ist aus kleinen rötlichen Ziegeln ge mau ert. Die Stufen sind unregelmäßig und schief. Die Win dungen sind eng, so dass man die Orientierung ver liert. Von Zeit zu Zeit gibt es einen Absatz. Manchmal mit Tür, manchmal mit zugemauertem Fenster. Die Türen schei nen also direkt in die Ewigkeit zu führen. Ein un bedachter Schritt, und man segelt runter.
Dann wird das ganze Treppenhaus schief. Zur Seite geneigt. Man geht durch eine enge, rötliche, seitlich ge neig te Röhre immer im Kreis nach oben. Von oben und unten dringt ein bisschen Licht zu den Abenteurern, aber alles in allem ist es dunkel. Dann kommt der Glocken stuhl. Die Glocken hängen gar nicht ganz oben, sondern in einem Stahlgerüst, das auf einer Plattform steht. Man muss über ein paar Drahtseile steigen, es ist eng. Nach allen Seiten sind große unverglaste Öffnungen in der Mauer. Mehr Öffnungen als Mauer. Auf dieser Ebene gibt es noch ein Geländer davor. Dann sieht Henning, dem schon ganz mulmig zumute ist, wie es weitergehen soll: In einen mindestens vier Stockwerke hohen Innenraum, der aus gotischen Fensterkombinationen besteht, also prak tisch keine Wand hat, ist eine kleine Stahltreppe gehängt. Weiter nach oben wird sie schnell kleiner. Es ist einfach unglaublich hoch. Von unten gesehen sah der Turm viel kleiner aus. Henning beißt die Zähne zusam men. «Na, dann mal los!», ist Steffens Einstellung zu der Angelegenheit. Vorsichtig betritt Henning die erste Stufe. Man kann immer sehen, wie hoch oben man ist. Zwischen den Stufen des Gerüstes kann man durchsehen, an allen Sei ten sind übermannshohe Fenster, die den Blick in die dunkle Stadtnacht freigeben. Henning fasst das Geländer auf beiden Seiten fest an und richtet den Blick stier gera deaus. Eine Dachbodenluke aus Stahl muss man noch auf klappen, das macht Steffen, dann muss man entweder einen großen Schritt machen oder einem Holzbrett ver trauen, und endlich ist man oben und wieder auf Stein. Von hier können einen notfalls Hubschrauber abholen, wenn die Stahltreppe einstürzt.
Es gibt einen Rundgang und die Aussicht ist phan tas tisch. Mal was anderes, als immer zu den Gebäuden hoch zusehen. Henning fasst die vielen Steine dankbar an und beschließt, dass sich der Turm keineswegs im Wind wiegt. Das kommt ihm nur so vor.
Henning und Steffen rauchen eine und sind froh, oben an gekommen zu sein. Henning hat Bedenken, was pas siert, wenn diese Glocken anfangen zu läuten, wenn sie da gleich wieder vorbei müssen. Steffen fühlt sich wohl mit Henning. Henning ist froh, wenigstens Steine unter sich zu haben und besieht die üppige Steinmetzarbeit, die der Zierde des Gotteshauses dient, obwohl man sie nur sehen kann, wenn man in kurzer Distanz daran vorbei fliegt oder eben auf den Turm steigt. In Hennings Jacke haben sie ein Bier mitgebracht, das trinken sie, an die Balus - trade des Turms gelehnt. Die Glocken beginnen zu läuten. Alles vibriert und schwingt, auch Hennings und Steffens Körper. Henning steht inmitten des ohrenbetäu ben den Glockenlärms und betrachtet das vibrierende Berlin von oben.
IV
O que l’enfer aujourd’hui
tarde à suivre nos lois!
Wünscht sich die Zauberin
Armide in Glucks Oper.
Il faut d’unir nos voix!
Antwortet ihr Onkel.
75
In Henningstadt angekommen, ist Henning nicht be son ders erbaut von der Aussicht darauf, wie sich sein Leben in naher Zukunft gestalten wird. Aber gut. Er hat einen Freund und weiß, dass er schwul ist. Auch was wert. Ansonsten Schule und Wohnen bei Rosi und Ar nold. Wenn er achtzehn ist, wird sich da vielleicht was ma chen lassen. Und Schule dauert auch nicht ewig, wenn sie ihn nicht wegen Fehlzeiten eine Ehrenrunde drehen lassen.
Vom Zug aus hat er angerufen, dass er wie angekün digt am Montag wiederkommt und dass Steffen ihn zu Hause abliefert. Er sei jetzt sein Freund. Punkt. War Ar nold recht. Wie viele Male hat er davon geträumt, aus der Schule abzuhauen und in die Großstadt zu gehen! Und sein Junge hat immerhin die Sparversion davon ins Werk gesetzt.
Zudem denkt er bei sich, dass es eine gute Aktion war, Steffen hinterherzufahren und für Klarheit zu sorgen. Henning trifft
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