Henry - Das Buch mit Biss (German Edition)
gut. Sie atmete, nirgendwo eine Wunde zu sehen. Ich versuchte sie mit
objektiven Augen zu sehen, die nur ihre Befindlichkeit kontrollierten. Ihre
Stirn war nicht mehr zerfurcht so wie sie es oft gewesen war, wenn sie wieder
von mir träumte.
Ich
spürte ihren Kuss auf meinen Lippen. Ganz flüchtig, so als würde die Erinnerung
daran bereits verblassen, weil es für Kaylen nie passiert war.
Es war
nicht meine Absicht, plötzlich in ihrem Zimmer zu stehen, über ihr Bett gebeugt.
Es war gefährlich. Wenn sie nun erwachte, ging das ganze Theater von vorne los.
Doch
ich handelte einfach. Vorsichtig beugte ich mich zu ihr runter, sog ihren Duft
in mich auf bis er mich ganz erfüllte.
Ganz
zart strich ich über ihre Wange.
Ich
musste ein Masochist sein, dass ich mir das antat, doch ich redete mir ein,
dass ich mich bloß verabschieden wollte.
Der
Kuss schmeckte süß. Kaylen schien für einen Moment zu lächeln.
„Ich
werde dich nie vergessen“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Und – wahrscheinlich war
es nur Einbildung – doch ich glaubte ein Nicken zu erkennen.
Danach
verschwand ich aus ihrem Leben.
Die nächsten Wochen
schwänzte ich die Schule. Oft betäubte ich den Schmerz mit Schlaftabletten,
doch irgendwann wirkten sie kaum mehr.
Isi
machte sich wie immer Sorgen um mich, doch ich nahm sie kaum war. Es war mir
egal, was sie sich für Ausreden für mich ausdachte. Sollte sie doch allen
erzählen, dass ich ansteckende Pusteln oder schleimige Pocken hatte. Es
kümmerte mich nicht mehr, was all diese unbedeutenden Menschen von mir dachten.
Falls sie sich überhaupt fragten, wo ich war. Denn nun gab es niemanden mehr,
der sich an mich erinnerte. Keiner, der sich freute mich zu sehen, oder dem ich
zuwider war. Pure Gleichgültigkeit.
Vielleicht
drehte sich ein Schüler um, stirnrunzelnd ob des einzigen leeren Platzes.
Vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich nicht, nein.
Ich hatte sogar geheult,
als ich sicher war, dass weder Nero noch sonst wer im Haus war. Ich hatte
geheult wie ein Baby. In mein Kissen geschlagen und eines meiner Modellautos
zertrümmert. Wirklich geholfen hatte das nicht. Es befreite nur kurzzeitig.
Mein Herz wog immer noch schwer und ich fand keine Möglichkeit, es zu
erleichtern bis auf diese kleinen weißen Pillen.
Doch
warum sollte ich mich sorgen? Ich war ja bereits tot. Keine Überdosis würde
großen Schaden anrichten, der nicht über Nacht verheilte. Wenigstens ein paar
Stunden am Tag verbrachte ich im schwebelosen Raum in dem es Nichts gab außer
einer angenehmen Gefühlslosigkeit.
Meine
Nase kitzelte. Kichern.
Egal,
ausblenden. Gefühlloser Raum. Unendliche Weiten.
Und
Kichern. Erneut. Argh!
„Wach
auf.“
Nein.
Keine Chance. Lass mich in Ruhe.
„Na
los Bücherknicker! Ich weiß, dass du mich hörst.“
Tu ich
nicht. Klappe jetzt.
Jemand
schob etwas in meine Nase.
„Kacke,
was soll das?!“
Ihr
fuhr hoch. Neben meiner Couch saß eine kichernde Hannah, die auf mich deutete,
das Gesicht vor spitzbübischer Freude gerötet.
Ich
griff an meine Nase und zog einen Strohhalm heraus.
„Was
soll das?“
Hannah
kicherte noch immer. Japste förmlich nach Luft.
„Isi
hat mich eingeladen.“
„Du
darfst gar nicht hier sein. Wenn Kassia dich sieht! Ich darf mich nicht mit dir
treffen.“
Hannah
beruhigte sich ein wenig. „Ist das so? Nun, mir ist es egal. Ich habe lange
genug getan, was andere von mir verlangt haben. Nun herrscht die Zeit der
Gesetzlosigkeit!“
Ihr
Gesicht strahlte. Ich brummte.
„Scheinbar
auch die Zeit der Anstandslosigkeit. Oder brichst du immer in die Zimmer
anderer ein und schiebst ihnen Strohhalme in die Nasen?“
Hannah
schüttelte den Kopf. „Ich hab dir doch gesagt, dass Isi mich eingeladen hat.
Ich bin durch die Tür reinspaziert. Hab sogar ganz artig angeklopft. Also kann
von Einbruch ja nicht die Rede sein. Der Rest deiner Familie ist auf Urlaub,
falls du es noch nicht mitbekommen hast. Bei irgendeiner Veda, oder so. Nur Isi
ist hiergeblieben um ein Auge auf dich zu haben.“
„Isi?
Seit wann seid ihr beide beste Freundinnen?“
Wie
aufs Stichwort kam Isobell in mein Zimmer mit einem Tablett auf dem ein Glas
Apfelsaftschorle stand.
„Hier.“
Seelenruhig reichte sie es Hannah ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
Was ging denn hier ab?
„Ich
hol dir besser einen neuen Strohhalm. Den aus Mattis Nase wirst du wohl kaum
noch benutzen wollen.“
„Danke
Isi. Lieb von dir.“
Die
beiden tauschen ein liebenswürdiges
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