Henry haut ab: Roman (German Edition)
und da, ohne jegliche Achtung architektonischer oder auch nur baulicher Grundregeln, noch mehr davon auf das Dach getupft waren. Noch bemerkenswerter waren die alten Kanonen, die von jeder Seite des Gebäudes über das Anwesen hinwegzielten und von unten hinter einer niedrigen Brustwehr nicht zu sehen waren. Der Taxifahrer hatte Recht gehabt, als er gesagt hatte, dass der Kerl, der sich dieses Haus ausgedacht hatte, entweder total verrückt oder auf Opium gewesen sein musste.
Wilt drehte sich zum Fenster um, durch das er herausgeklettert war, und beging den Fehler, über die Brustwehr hinweg nach unten zu sehen. Die Erkenntnis, dass er wesentlich höher war, als er gedacht hatte, gepaart mit seiner Höhenangst, ließ ihn auf die Knie sinken und voller Panik auf allen vieren über das Fensterbrett zurück in Sicherheit kriechen. Er würde nach unten gehen und den Jungen suchen, beschloss er. Und er war verdammt sicher, dass er nie wieder auf dieses schreckliche Dach klettern würde.
Gerade war er unten angekommen, als er abermals Mrs. Bale traf.
»Lady Clarissa sagt, sie möchte Sie in einer Stunde im Speisesalon sprechen. Sie fühlt sich schon viel besser, auch wenn sie natürlich noch immer in Trauer ist, das arme Ding. Es tut ihr sehr leid, dass sie nicht hier war, um Sie zu begrüßen und Ihnen alles zu zeigen, aber natürlich, wo ihr armer Onkel so plötzlich …«
»Oh, dann war es doch ihr Onkel, der gestorben ist? Das tut mir leid, und meiner Frau bestimmt auch. Heißt das, dass nun alle nach Ipford zur Beerdigung fahren? Ich kann Eva anrufen und ihr sagen, dass sie noch nicht kommen soll, falls das nötig ist.«
»Oh nein, anscheinend kommt der Leichnam hierher.«
»Hierher? Wie merkwürdig.«
Mrs. Bale wollte gerade antworten, als aus dem Arbeitszimmer ein wütender Schrei ertönte.
»Wo ist dieser Nachhilfelehrer? Ich hab ihm doch gesagt, er soll hierbleiben, um auf den Waffenschrank aufzupassen. Und der Idiot ist einfach verschwunden und hat ihn offen gelassen! Viel schlimmer, die Schlüssel sind auch weg …«
»Ich glaube, Sie verziehen sich lieber. Ich versuche, ihn zu beruhigen«, flüsterte Mrs. Bale.
Wilt hastete schon den Flur entlang, als sie Sir George zurief, dass sie gleich käme.
Lady Clarissa lag mit einem veritablen Kater im Bett und wartete darauf, dass es ihr gut genug ging, um wenigstens den Versuch zu wagen aufzustehen. Als sie am Vorabend spät zurückgefahren war, war sie erstaunlich guter Dinge gewesen. Sie freute sich darauf, Wilt wiederzusehen, und eigentlich, wenn man es recht bedachte, war Onkel Harolds Tod in gewisser Weise auch eine Erleichterung. Sogar der Gedanke, fortan jedes Wochenende mit Sir George verbringen zu müssen, beunruhigte sie nicht über Gebühr. Sie war sich sicher, dass es andere Gelegenheiten geben würde, um sich mit dem Mann von der Werkstatt zu treffen, vorausgesetzt, dass er sich von seiner Erkältung oder Schweinegrippe oder was immer es war erholte.
Als sie an dem großen eisernen Tor hinter dem Haus angekommen war, öffnete sie es mit dem elektronischen Spielzeug, dass Sir George installiert hatte, um zu verhindern, dass irgendein Dieb seinen Bentley stahl oder noch viel schlimmer, den Rolls-Royce, und fuhr dann den Jaguar in die Garage. Als sie ins Haus kam, fand sie die Küche leer vor, also ging sie durch den Flur zu Sir Georges Arbeitszimmer.
»Du bist aber spät zurück«, stellte er fest, während er ein Gewehr polierte. Auf dem Boden lag der Putzstock.
»Ich habe deine Sekretärin angerufen. Sie hätte dir Bescheid sagen sollen.«
»Mrs. Bale informiert mich nie über irgendetwas Angenehmes. Immerhin hat sie mir etwas zum Abendessen gegeben, wenn man das so nennen kann.«
»Und was ist mit Mr. Wilt? Hat sie ihm auch ein Abendessen gegeben?«
»Würde ich annehmen. In der Küche. Ich diniere nicht mit der Dienerschaft.«
»Und wie kommen Edward und Mr. Wilt miteinander zurecht?«
»Keine Ahnung. Hab den Jungen nicht zu Gesicht bekommen, und ich glaube nicht, dass es Wilt anders ergangen ist. Du musst dem lieben Eddie mal eine Standpauke halten.«
»Nenn ihn nicht Eddie. Er heißt Edward. Ich nehme an, er gewöhnt sich einfach daran, wieder zu Hause zu sein.«
»Gott steh uns bei«, murmelte Sir George.
Lady Clarissa ignorierte die Bemerkung.
»Was hast du mit dem Gewehr da gemacht?«, fragte sie.
»Ich poliere es einfach nur, meine Liebe. Man kann nie wissen, wann man eine Waffe braucht. Erst heute Morgen haben ein paar
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