Hera Lind
Entschlossen legt Christian den Rückwärtsgang ein.
Ich sah den Mann, bei dem ich mich glücklich und geborgen fühlte, von der Seite an. Was bedeutete »nach Hause«? Ich wusste es nicht.
Als mein Handy am nächsten Morgen vibrierte, wusste ich, dass meine Zeit mit Christian abgelaufen war. Es war Paulchen, der mich sprechen wollte.
»Mami, der Caspar ist ja jetzt im Krankenhaus, und ich habe niemanden, der mit mir in der Schule zum Tischtennis-Doppel antritt. Mami, du musst kommen, ich brauche dich!«
Die beiden hatten hart trainiert. Es bedeutete Paulchen viel, dieses Turnier zu gewinnen.
»Natürlich, mein Schatz. Um wie viel Uhr bist du denn dran?«
»Um drei. Aber beeil dich. Wenn einer ausfällt, kann es auch eher sein!«
Es war acht Uhr fünfzehn in unserer romantischen kleinen Hütte am Wolfgangsee. Im altmodischen Radio liefen Volkslieder. Ein Frauenchor sang dreistimmig: »Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb … Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.« Na toll. Heul doch! Hastig blinzelte ich meine Tränen weg. Jetzt bloß nicht melancholisch werden. Meine Kinder brauchten mich. Meine Zeit mit Christian war im Grunde von vornherein begrenzt gewesen. Und jetzt war sie abgelaufen wie eine Eieruhr.
Das Kaminfeuer prasselte, und das Frühstück stand auf dem Tisch. Christian reichte mir meinen Milchkaffee mit Honig. Ich befand mich auf einer Insel der Seligen, die jedoch mit der Realität nichts zu tun hatte.
Christian sah mir besorgt ins Gesicht: »Es ist so weit, nicht wahr?«
»Ja, ich muss nach Hause. Und zwar so schnell, dass ich heute Nachmittag um drei beim Tischtennisturnier in Paulchens Schule mitspielen kann.«
»Das schaffst du nicht mit dem Auto.«
»Hast du deinen Laptop dabei?«, fragte ich Christian. »Ich brauche einen Flug!«
Ohne zu zögern suchte Christian mir einen Flug von München nach Hannover heraus.
»Elf Uhr fünfzehn. Den schaffen wir. In Hannover nimmst du dir einen Mietwagen.« Auch den organisierte er ohne großes Federlesen. »Er steht bei Sixt für dich bereit.«
Mein Gott, wie wenig überflüssige Worte er machte! Jürgen hätte tausendmal hin und her überlegt, Bemerkungen über die Kosten gemacht und darüber, dass ich keine Automatikschaltung gewöhnt sei. Er hätte mir eingeschärft, dass ich unbedingt eine Vollkasko abschließen müsse, bei meiner Ungeschicklichkeit. Und natürlich hätte er darauf bestanden, dass ich mir die Belege geben ließ, für die Steuer. Ich hätte mir eine Bevormundung nach der anderen anhören müssen, einen Machtkampf ausfechten müssen, aus dem er stets als Sieger hervorging. Genau wie beim Schach. Und auf dieses schäbige Schlachtfeld würde ich in Kürze zurückkehren.
Mit bewundernswerter Gelassenheit half Christian mir, meine Sachen zu packen. Tränenblind stopfte ich alles in meine Reisetasche. Eine Viertelstunde später saßen wir bereits im Auto. Christian fuhr. Routiniert und unaufgeregt.
»Mach dir keine Sorgen um den Wagen. Ich bringe ihn Sophie zurück. Heute Abend bin ich locker da.«
Christian legte nicht sein Veto ein, er versuchte auch nicht, mich zu etwas zu überreden, zu dem ich noch nicht bereit war. Christian würde ein zweites Mal nach Heilewelt kommen. Aber nicht mehr zu mir. Mein Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, dass ich glaubte, nie wieder Luft zu bekommen. Wir passten zusammen. Wir liebten einander. Er hatte es mir immer wieder gesagt. Aber es ging nicht. Es durfte nicht sein. Ich warf einen Blick zurück zu der gemütlichen Holzhütte, die sich an den Fuß des Berges schmiegte, zu dem Boot, das vertäut auf dem Wasser schaukelte. Das hier ist Ferienromantik, dachte ich wehmütig, kein Alltag. Der Alltag, das waren die Schrebergärten, Jürgen, die Sparkasse und sein Kredit. Bald bestimmt auch Zahlungsschwierigkeiten, denn wenn die Anmeldungen in meiner Musikschule weiter zurückgingen … Zu Hause wartete eine Menge Ärger auf mich. Aber eben auch meine Kinder.
Im Außenspiegel sah ich mein verheultes Gesicht. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen. So wie damals, als ich in meinem Arbeitszimmer gesessen hatte. Nur diesmal war der Schmerz noch schlimmer.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte ich Christian mit brüchiger Stimme. Nicht rüberschauen. Sieh ihn nicht an! Er ist gar nicht mehr da.
»Wenn du uns wirklich keine Chance gibst, gehe ich nach Amerika«, erwiderte er. »In Chicago ist eine Stelle frei.«
»Was?«, entfuhr es mir. »So weit
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