Hera Lind
»Prost, Kindchen. Ick frag mich nur, wohin det noch führn soll mit deinem ewig abwesenden Jötterjatten. Nich, dat der ne andere hat. Da würd ich aber schon hellhörig an deiner Stelle! Und die Kinder sind ooch nich da?!«
Doch, die schlafen noch. Aber das werde ich dir nicht auf deine neugierige Nase binden. Denn dann wirst du Türen öffnen und siehst als Erstes Grazia in den Armen ihres Beischläfers Benni und zweitens Gloria in Christians Bett. Beides wird dich zu weiteren unpassenden Bemerkungen und Schlussfolgerungen verleiten.
»Du, es ist alles im grünen Bereich«, sagte ich leichthin. »Ist es okay für dich, wenn ich ganz schnell unter die Dusche springe?«
Vielleicht würde sie dann wieder gehen, und ich könnte weiterturnen. Ich würde kurz das Wasser anstellen, durch den Badezimmertürspalt spähen und einfach auf meine Matte zurückkehren, sobald sie weg war. Trick siebzehn funktionierte aber heute nicht.
»Aba klaa, Kindchen! Wenn de danach Zeit hast, dein Jeschenk auszupacken … Eena muss dir ja heute die Einsamkeit vertreiben!« Mein Schweigen missdeutend, schlürfte Ursula behaglich ihren Champagner.
Meine Lippen waren fest zusammengepresst, als ich mich endgültig von meiner Gymnastikmatte verabschiedete. Mist!, dachte ich und sprang leise fluchend unter die Dusche. Das Telefon klingelte. Das musste Christian sein! Erleichterung keimte in mir auf.
»Soll ick ranjehn?«
»Ja, sag Christian, ich kann ihn sofort abholen!«, antwortete ich und suchte blind nach einem Handtuch. Dann konnte ich Trick siebzehn doch noch anwenden! Selbst Christian kannte ihn und spielte gerne mit. Notfall, sofort kommen, Kobalik-Alarm! Jetzt freute ich mich regelrecht auf ein Versöhnungsmittagessen mit anschließendem Versöhnungsbeischlaf. Beherzt drehte ich den Strahl noch einmal auf kalt. So, blöder kleiner Kater – husch, hinweg mit dir! Ich scheuchte ihn aus dem geöffneten Badezimmerfenster. Nun war ich hellwach und frisch. Für Christian. Ein guter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Als ich wenig später im Badehandtuch mit Turban aus der Dusche kam, hielt Ursula mir vielsagend den Hörer hin.
»Für dich!« Mit theatralischer Geste deckte sie die Muschel ab.
Ja logisch, Ursula. Das ist schließlich keine Überraschung. ICH wohne hier, nicht du.
»Nicht Christian?« Fieberhaft suchte ich nach dem nächsten Trick.
»Ein Herr Immekeppler oder so ähnlich! Aus Heilewelt! Von irgendeiner Sparkasse!«
Hä? Heute? Wollte der mir was verkaufen? Das lief gerade ganz und gar nicht nach Plan. Ich räusperte mich verlegen. »Für MICH?« Ich zeigte auf meine Brust, die ich mühsam mit dem Badehandtuchknoten verdeckte. Warum rief der mittags am ersten Weihnachtsfeiertag bei mir an? Ich starrte Ursula ratlos an. Sie beäugte mich mit unverhohlener Neugier. Sollte ich sie mit der Hand verscheuchen wie eine streunende Katze? Oder wäre sie dann tödlich beleidigt? Aber wenn mich ein Mensch aus HEILEWELT sprechen wollte, war es vielleicht doch besser, wenn sie blieb? Irgendwie fühlte ich mich plötzlich verunsichert.
»Ja?«, sagte ich in den Hörer.
»Guten Tag, mein Name ist Jürgen Immekeppel«, drang eine ziemlich aufgeregte Männerstimme an mein Ohr. »Es tut mir leid, dass ich Sie heute an Weihnachten stören muss!«
Tja, da war er heute schon der Zweite, der das musste. Stille. Mein Geduldsfaden war bis zum Zerreißen gespannt. »Ja?«
Ursula Kobalik hielt ihren Kopf dicht neben den meinen, um mitzuhören. Da sie aus dem Mund stank, stellte ich einfach auf laut.
»Haben Sie einen Moment Zeit?« Hatte ich?
Ursulas Blick hing gebannt an mir. Sie nickte.
»Ja.«
Der Mann klang so, als sei etwas wirklich Schlimmes passiert. Hätte ich Christian nicht schon gesehen, hätte ich geglaubt, er hätte dort einen Unfall gehabt oder eine Sparkasse überfallen. Aber er war ja gut gelaunt und heil nach Hause gekommen, ja, er hatte sogar mit mir schlafen wollen.
»Tja, ähm, also es ist mir unendlich peinlich, aber ich bin der Lebensgefährte von Lotta von Thalgau.«
»Ja?« Die kannte ich nicht. Nur Lotta aus der Krachmacherstraße.
»Meine Frau ist die Direktorin der Musikschule hier in Heilewelt.«
»Ja?«, sagte ich hilflos. War das die mit dem improvisierten chaotischen Konzert?
»In der Ihr Mann vorgestern bei ›Peter und der Wolf‹ mitgespielt hat.«
»Ja?« Ursula gab mir einen wissenden Stoß zwischen die Rippen, und mir entfuhr unwillkürlich ein Schreckenslaut.
»Ähm … sind Sie allein?«,
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