Hera Lind
bringen, mich unsichtbar machen. Leffers sprang begeistert neben mir auf und ab und bellte sich die Seele aus dem Leib. Beschämt senkte ich den Blick, wenn mir Leute entgegenkamen. Als ich auch die zweite Litfaßsäule entschärft hatte, ging es mir für den Bruchteil einer Sekunde besser.
Jürgen holte mich ein. »Ist alles okay mit dir? Du keuchst so!«
»Ich bin kurz vorm Durchdrehen.« Grüne Punkte tanzten vor meinen Augen. »Was soll ich machen? Was soll ich nur tun? Ich kann doch den Leuten hier nicht mehr unter die Augen treten?«
»Vielleicht waren es wirklich nur diese zwei Plakate«, sagte Jürgen beschwichtigend. Auch ihm stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. »Die an der Musikschule und an der Sparkasse hatte ich ja schon abgehängt.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel: »Da hat ja deine Mutter glücklicherweise schon Kartoffeln drauf geschält.«
Jetzt war ich ihr sogar richtig dankbar dafür. »Jürgen, bitte lass uns die ganze Stadt abfahren und alle Plakate kontrollieren«, flehte ich ihn an. »Bitte! Ich kann sonst an nichts anderes mehr denken!«
»Auch nicht an den Flötenspieler?« Jürgen lächelte immer noch. Fast triumphierend.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Jürgen, ich flehe dich an!« Leffers bellte hysterisch.
»Wenn es dich beruhigt, setze ich mich gleich ins Auto und fahre alle Litfaßsäulen und Plakatwände ab«, versprach Jürgen. »Wenn es dein innigster Wunsch ist …«
»Ja, Jürgen, es ist mein innigster Wunsch!«, stieß ich verzweifelt hervor. »Und nimm den dicken Stift hier mit und übermal alles, was du Widerliches über mich liest!«
»Aber natürlich. Allein schon unserer Kinder wegen. Paul kann schließlich lesen.«
Ich heulte fast vor Erleichterung und schämte mich wie schon seit Kindertagen nicht mehr. »Wenn du das für mich tust, Jürgen, werde ich nie wieder an den Flötisten denken und auch nie wieder den Fernseher anmachen, wenn die Wiener Philharmoniker spielen …«
»Dann ist es ja gut.« Jürgen nahm mir den kläffenden Köter ab: »Halt die Schnauze, Leffers! Es reicht!« Er legte den Arm um mich und ging mit mir zurück zur Schrebergartensiedlung, wo mich weit und breit kein Plakat verstören konnte. »Das Tier hat ganz sensible Antennen«, sagte er. »Es spürt deine Panik. Aber mach dir keine Sorgen, ich halte zu dir, wir sind schließlich ein Team, nicht wahr?«
Er lächelte mich an, und diesmal lächelte ich dankbar zurück.
Noch am selben Nachmittag kontrollierte Jürgen sämtliche Plakate. Er leuchtete sie mit seinen Autoscheinwerfern an, mit Fernlicht, wie er mir später erzählte. »Du kannst beruhigt sein!«, flüsterte er mir zu, als er Stunden später nach Hause kam. »Es waren keine Schmierereien mehr zu sehen. Die meisten Plakate waren sowieso schon vom Regen durchweicht. Und zwei habe ich noch gerettet. Schau!« Er entrollte sie. »Sollen wir die noch rahmen und aufhängen?«
»Ach nein!«, flüsterte ich beschämt. »Da werde ich gleich mal Zwiebeln drauf schälen …«
Wie ich in der Zwischenzeit festgestellt hatte, hatte mir Sophie schon drei SMS geschickt: »Ich WAR nicht auf dem Golfplatz!«, »Der Golfplatz ist seit Wochen geschlossen, er steht unter Wasser!«, und die letzte: »Eine Frau Schaumschläger hat den Golfplatz noch nie betreten!«
Ich hatte nicht geantwortet, sondern noch einmal versucht, herauszufinden, wer da um sechs Uhr früh angerufen hatte. Aber der Anruf war wie von Geisterhand aus meinem Handy verschwunden.
Jürgen warf einen Blick darauf. Er tätschelte mir den Kopf, nahm das Handy von der Küchentheke und sagte tröstend: »Ich nehme es eine Zeit lang an mich. Du wirst sehen, dann fühlst du dich gereinigt. So wie früher nach der Beichte.«
ANITA
»Kindchen, du wirst sehen. Du wirst dich gereinigt fühlen, so wie früher nach der Beichte.« Ursula Kobalik nahm das letzte Jackett Christians vom Bügel und warf es auf mein Bett. »Wie viele Müllsäcke hast du denn noch?«
»Keine mehr.« Ich richtete mich auf und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mir tat der Rücken weh. Wir hatten seit dem frühen Morgen Christians Sachen aus Schränken und Kommoden geräumt und in Müllsäcke gestopft. Vier Koffer und zwei Bücherkisten standen bereits gepackt auf der Terrasse im Schnee. Seine Uhrensammlung, seine Instrumente und seine gerahmten Fotos mit Karajan, Bernstein, Sir George Solti und wie die weltberühmten Dirigenten alle hießen, wollten wir lieber nicht der Kälte aussetzen.
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