Herbst - Zerfall
Er fand Webb, der sich gerade eine Dose Bier öffnete und eine Zigarette anzündete, auf einer niedrigen Mauer sitzend vor.
»Scheiße!«, fluchte er, als Sean plötzlich erschien. »Du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Tut mir leid, Kumpel«, murmelte Sean entschuldigend.
»Ich dachte, du wärst einer der anderen und gekommen, um rauszufinden, wieso ich mich drücke.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nee, ich hatte bloß Lust auf eine Pause und es sah so aus, als hättest du dieselbe Idee.«
»Zigarette?«
»Nein, danke. Allerdings hätte ich gerne ein Bier.«
Webb warf ihm eine Dose zu.
»Prost«, sagte er und nahm einen Schluck. Es war, da es ihnen inzwischen ausgegangen war, für ihn seit ein paar Wochen das erste Bier. Herrgott, es schmeckte verdammt gut.
»Und, wie war’s so bei euch?«, fragte Webb.
»Langweilig«, erwiderte Sean.
»Langweilig!?«, wiederholte er überrascht. »Du machst wohl verdammt noch mal Scherze, oder? Das ist das Ende der Welt. Da draußen sind Millionen toter Körper, die versuchen, uns auseinander zu reißen. Wie kann es da langweilig sein?«
»Siehst du hier irgendwo Leichen?«, knurrte er, schüttete noch mehr Bier in sich hinein und setzte sich neben Webb.
»Gutes Argument, aber ihr müsst doch mit ein paar davon zu tun gehabt haben, oder? Himmel, wir waren wochenlang von Tausenden dieser beschissenen Dinger eingekesselt.«
»Ich bin hierhergekommen, bevor es wirklich zur Wende kam«, erklärte er. »Wir haben zwar Priests Schoßleiche mit ihren Veränderungen gesehen und vom Fenster aus andere, die gekämpft haben, aber wir blieben einfach an Ort und Stelle.«
»Über fast zwei Monate lang?«
»So ungefähr.«
Webb schüttelte ungläubig den Kopf. Neben ihm zitterte Sean vor Kälte; er war in eine dünne Fleecejacke mit Kapuze, ein T-Shirt, Jeans und Turnschuhe gekleidet. Webb hingegen trug immer noch seine schweren Stiefel und die blutgetränkten Motorradhosen. Er sah aus, als ob er die Toten wochenlang ohne Pause bekämpft hätte, während Sean wirkte, als ob er gerade vom College nach Hause gekommen wäre.
»Keine Ahnung, wie du das überstanden hast, Kumpel. Ich wäre längst ausgetickt.«
»Es liegt nicht an den Leichen«, unterbrach ihn Sean rasch, der froh darüber war, endlich die Gelegenheit zu bekommen, sagen zu können, was er dachte. »Es liegt an dem Haufen hier. Sie sind so verflucht zaghaft. Es heißt nur: Bleib sitzen, tu das, mach keinen Lärm, Kopf runter ... Ich habe es so satt.«
»Kannst du nicht einfach spazieren gehen?«
»Was?«
»Kannst du hier nicht einfach ein bisschen rausgehen? Ich hab das so gemacht, als wir noch in den Wohnungen waren. Entweder saß ich im Wagen oder hab mir ein paar Leichen gesucht, die ich verprügeln konnte oder ...«
»Du hast nach ihnen gesucht?«
»Manchmal. Es war dort, wo wir waren, ziemlich leicht. Ich habe ein paar erwischt und die Arschlöcher so lange geschlagen, bis von ihnen nicht mehr als ein Haufen Blut und Knochen übrig war.«
»Keine Ahnung, ob ich das auch könnte ...«
»Sei nicht so verflucht empfindlich! Klar könntest du das. Es ist nicht schwer, die verdammten Dinger sind tot. Solange du nichts Dummes tust, wirst du ...«
»Aber die haben doch einen von euren Leuten getötet, oder? Ich habe gehört, wie jemand gesagt hat ...«
Webb nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier und blickte auf den Horizont, um Augenkontakt zu vermeiden.
»Das stimmt«, sagte er leise. Einerseits wollte er zu Stokes’ Tod nichts weiter sagen, fühlte sich jedoch zum Sprechen verpflichtet, um seine Spuren zu verwischen. »Ich war mit ihm zusammen, als es passiert ist. Armer Kerl.«
»Seid ihr deswegen hier?«
»So ungefähr. Deshalb und wegen den Keimen sind wir weg.«
»Keime?«
»Ein paar der Weiber wurden krank und starben. Wir haben uns davon gemacht, bevor noch jemand sonst krank werden konnte.«
»Mist, mir war nicht klar ...«
»Und du erzählst mir, dass du gelangweilt bist?«
Sean blickte zu Boden und fühlte sich plötzlich albern und einfältig. Er konnte weder seine Verdrossenheit leugnen, noch, wie sehr ihm die wachsende Anspannung und die unablässige Klaustrophobie zusetzte. Er hätte das Risiko in Kauf genommen, sein Leben aufs Spiel zu setzen, nur um für eine Zeit lang von hier wegzukommen. Himmel, was hätte er nicht dafür gegeben, ein wenig von der Action mitzubekommen, die Webb beschrieben hatte.
»Nachts sitzen sie herum und spielen Karten, Himmelherrgott«, beklagte er
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