Herbstfeuer
leer war, dann schlich sie auf Zehenspitzen voran zum Dienstboteneingang am Ende. Die Schwestern bewegten sich geschickt und vollkommen lautlos auf dem dicken Teppich.
Sosehr Lillian den Besitzer von Stony Cross Park auch verabscheute, so musste sie doch zugeben, dass er über ein herrliches Anwesen verfügte. Das Haus war im klassischen Stil erbaut, eine Festung aus honigfarbenem Stein, mit vier pittoresken Türmen an den Ecken, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Es stand auf einer Erhebung über dem Fluss Itchen und war umgeben von terrassenförmig angelegten Gärten und Obstgärten, die in zweihundert Morgen von Parklandschaften und Wäldern übergingen. Jeder der Dienstboten betonte gern, dass fünfzehn Generationen von Westcliffs Familie, den Marsdens, das Haus bewohnt hatten. Und all das umfasste noch nicht einmal den ganzen Reichtum Lord Westcliffs. Man sagte, fast hunderttausend Morgen in England und Schottland gehörten zu seinem Besitz und außerdem zwei Schlösser, drei Herrenhäuser, fünf Landhäuser und ein Stadthaus an der Themse. Das Prunkstück des Besitzes aber war zweifellos Stony Cross Park.
Während sie neben dem Gebäude entlanghuschten, achteten die Schwestern darauf, sich immer nahe an der langen Eibenhecke zu halten, die sie vor Blicken aus dem Haupthaus schützte. Das Sonnenlicht fiel schimmernd durch das Dach aus ineinander verflochtenen Zweigen, als sie den Wald betraten, der aus alten Zedern und Eichen bestand.
Überschwänglich warf Daisy die Arme in die Luft und rief aus: „Oh, wie sehr ich diesen Platz liebe!“
„Er ist ganz passabel“, meinte Lillian, obwohl auch sie insgeheim zugeben musste, dass es in diesem frühen Herbst kaum ein schöneres Fleckchen Erde in ganz England geben konnte.
Daisy sprang auf einen Baumstamm, der am Wegesrand lag, und balancierte vorsichtig darauf entlang. „Beinahe wäre er es wert, dafür Lord Westcliff zu heiraten, meinst du nicht? Um dafür Herrin auf Stony Cross Park zu werden?“
Lillian zog die Brauen hoch. „Und dann seine übertriebene Aussprache zu ertragen und jedem seiner Befehle zu gehorchen?“ Sie zog eine Grimasse und rümpfte voller Abscheu die Nase.
„Annabelle sagt, dass Lord Westcliff eigentlich viel netter ist, als sie gedacht hatte.“
„Sie wird das sagen müssen, nach dem, was vor ein paar Wochen geschehen ist.“
Die Schwestern verstummten und dachten an die dramatischen Ereignisse, die sich vor Kurzem zugetragen hatten.
Während Annabelle und ihr Gemahl, Simon Hunt, die Lokomotivwerke besichtigten, die ihm gemeinsam mit Lord Westcliff gehörten, hätte sie eine schreckliche Explosion um ein Haar das Leben gekostet. In einer beinahe selbstmörderischen Rettungsaktion war Lord Westcliff in das Gebäude gestürzt, um sie zu retten, und hatte sie beide lebendig herausgebracht. Verständlich, dass Annabelle jetzt in ihm einen Helden sah und sogar kürzlich behauptet hatte, seine Arroganz betörend zu finden. Darauf hatte Lillian nur angemerkt, dass Annabelle wohl noch unter den Nachwirkungen einer Rauchvergiftung litt.
„Ich denke, wir schulden Lord Westcliff unseren Dank“, verkündete Daisy und sprang von dem Baumstamm herunter. „Schließlich hat er Annabelle das Leben gerettet, und es ist ja nicht so, dass wir eine Unmenge von Freunden besitzen.“
„Es war Zufall, dass er Annabelle gerettet hat“, meinte Lillian. „Westcliff hat nur sein Leben riskiert, um keinen wichtigen Geschäftspartner zu verlieren.“
„Lillian!“ Daisy, die ein paar Schritte vorausgelaufen war, drehte sich um und sah die Schwester überrascht an. „Es sieht dir gar nicht ähnlich, so gefühllos zu sein. Um Himmels willen, der Earl lief in ein brennendes Gebäude, um unsere Freundin und ihren Ehemann zu retten – was soll der Mann denn noch tun, um dich zu beeindrucken?“
„Ich bin sicher, dass es Westcliff völlig egal ist, ob er mich beeindruckt“, erwiderte Lillian. „Der Grund, Daisy, warum ich ihn so wenig mag, liegt darin, dass er mich nicht mag. Er glaubt sich mir in jeder Hinsicht überlegen, moralisch, gesellschaftlich und intellektuell – ach, wie sehr ich mich danach sehe, ihn auf seinen Platz zu verweisen!“
Ein Weilchen gingen sie schweigend weiter, dann bückte sich Daisy, um ein paar Veilchen zu pflücken, die in großen Büscheln rechts und links vom Wegesrand wuchsen. „Hast du je versucht, nett zu Lord Westcliff zu sein?“, fragte sie beiläufig. Während sie die Arme hob, um die Veilchen in
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