Herbstfeuer
kürzlich unterbreitet hatte. Die Bowmans benötigten dringend einen gesellschaftlichen Fürsprecher, der sie in die höheren Kreise der britischen Gesellschaft einführte – und zwar nicht irgendeinen Fürsprecher. Es musste jemand mit Macht und Einfluss sein, jemand, der bekannt war. Jemand, der vom übrigen Adel anerkannt wurde. Annabelle zufolge wäre dafür niemand besser geeignet als die Countess of Westcliff, die Mutter des Earls.
Die Countess, die gern den Kontinent bereiste, bekam man kaum jemals zu Gesicht. Selbst wenn sie sich in Stony Cross Manor aufhielt, mischte sie sich nur selten unter die Gäste, da sie die Gewohnheit ihres Sohnes missbilligte, sich mit Geschäftsleuten und anderen Nichtadligen anzufreunden. Keine der Bowman-Schwestern war bisher der Countess begegnet, aber sie hatten viel von ihr gehört. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, war die Mutter des Earls ein alter Drache, der Ausländer verachtete. Vor allem Amerikaner.
„Wie Annabelle darauf kommt, dass ausgerechnet die Countess unsere Fürsprecherin werden könnte, entzieht sich meinem Verständnis“, sagte Daisy und trat kleine Steine aus dem Weg, während sie wieder den Pfad entlanggingen. „Ganz gewiss wird sie es nicht freiwillig tun, das steht einmal fest.“
„Wenn Westcliff es ihr befiehlt, wird sie es tun“, erwiderte Lillian. Sie hob einen großen Stock auf und schwenkte ihn gedankenverloren hin und her. „Offensichtlich kann die Countess dazu gebracht werden, alles zu tun, was Westcliff verlangt. Annabelle sagte mir, dass die Countess Lady Olivias Heirat mit Mr. Shaw nicht billigte und an der Hochzeit nicht teilnehmen wollte. Doch Westcliff wusste, dass das seine Schwester sehr kränken würde, daher zwang er seine Mutter zu bleiben und brachte sie sogar dazu, eine höfliche Miene aufzusetzen.“
„Wirklich?“ Daisy lächelte sie halbherzig an. „Und wie ist ihm das gelungen?“
„Indem er als Herr des Hauses auftrat. Zu Hause in Amerika regiert im Haus die Frau, aber in England dreht sich alles um den Mann.“
„Hmm, das gefällt mir nicht sehr.“
„Ja, ich weiß.“ Lillian schwieg einen Moment, ehe sie hinzufügte: „Annabelle zufolge muss in England der Ehemann mit jeder Menüfolge einverstanden sein, mit den Möbeln, der Farbe der Vorhänge – mit allem.“
Daisy schien überrascht und erschrocken. „Beschäftigt sich Mr. Hunt mit solchen Dingen?“
„Nun – nein, er ist nicht von Adel. Er ist Geschäftsmann. Und Geschäftsmänner haben gewöhnlich keine Zeit für solche Trivialitäten. Aber der durchschnittliche Adlige verfügt über genügend Zeit, um jede Kleinigkeit im Haus zu überprüfen.“
Daisy hörte auf, Steine aus dem Weg zu treten, und musterte Lillian mit gerunzelter Stirn. „Ich habe mich gefragt – warum sind wir so entschlossen, in den Adel einzuheiraten, in einem großen, baufälligen alten Haus zu leben, fades englisches Essen zu uns zu nehmen und eine Schar von Dienstboten anzuweisen, die absolut keinen Respekt vor uns haben?“
„Weil es Mutters Wunsch ist“, erwiderte Lillian sachlich. „Und weil uns in New York keiner haben will.“
Unglücklicherweise fiel es Männern, die eben erst ein Vermögen erworben hatten, sehr leicht, eine vorteilhafte Ehe einzugehen. Aber Erbinnen ohne blaues Blut waren weder bei den etablierten Adligen noch bei den Neureichen begehrt, die sich sozial verbessern wollten. Daher bestand die einzige Möglichkeit darin, in Europa nach einem Ehemann zu suchen, wo die Männer der Oberklasse reiche Ehefrauen benötigten.
Daisys Stirnrunzeln machte einem ironischen Lächeln Platz. „Was, wenn uns auch hier niemand haben will?“
„Dann werden wir ein paar boshafte alte Jungfern, die kreuz und quer durch Europa reisen.“
Bei dieser Vorstellung lachte Daisy und warf ihren langen Zopf zurück. Für junge Frauen in ihrem Alter galt es als unschicklich, ohne Hut herumzulaufen, und noch viel weniger schicklich war es, das Haar offen zu tragen. Doch die beiden Bowman-Schwestern besaßen so dichte dunkle Locken, dass es jedes Mal eine Qual war, sie zu den komplizierten Frisuren aufzustecken, wie sie gerade modern waren. Jede von ihnen brauchte mindestens drei Sätze Haarnadeln, und Lillians empfindliche Kopfhaut schmerzte immer nach all dem Zerren und Ziehen, das nötig war, um eine repräsentative Frisur für einen festlichen Abend herzustellen. Mehr als einmal hatte sie Annabelle Hunt um ihre seidenweichen Locken beneidet, die
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