Herbstfeuer
Mylady. Ich hoffe, der Weg vom Haus hierher war nicht zu anstrengend für Sie.“
„Das geht nur mich etwas an“, erwiderte die Countess. „Nicht Sie.“
Obwohl die kühlen schwarzen Augen ausdruckslos blieben, erschauerte Lillian. Es war nicht direkt Angst, aber eine dunkle Vorahnung, die sie bei ihren früheren Begegnungen niemals empfunden hatte. „Ich wollte nur meinem Interesse an Ihrem Wohlergehen Ausdruck verleihen“, sagte Lillian und hob wie abwehrend die Hände. „Aber ich werde Sie nicht mit weiteren Freundlichkeiten behelligen, Mylady. Fangen Sie an, und sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben. Ich werde zuhören.“
„Um Ihretwillen und um meines Sohnes willen hoffe ich, dass Sie das tun.“ Die Worte der Countess klangen kalt und gleichzeitig ein wenig erstaunt, als wunderte sie sich, dass sie sie überhaupt aussprechen musste. Zweifellos hatte sie – bei all den Streitigkeiten in ihrem Leben – mit dieser hier nicht gerechnet. „Wenn ich mir hätte vorstellen können, dass ein gewöhnliches Mädchen wie Sie auf den Earl attraktiv wirkt, hätte ich dem Ganzen schon sehr viel früher Einhalt geboten. Der Earl ist nicht bei klarem Verstand, sonst wäre es zu diesem Wahnsinn niemals gekommen.“
Als die silberhaarige Frau innehielt, um Luft zu holen, hörte Lillian sich selbst mit ruhiger Stimme fragen: „Warum bezeichnen Sie es als Wahnsinn? Vor ein paar Wochen noch waren Sie der Meinung, ich könnte einen britischen Adligen gewinnen. Warum nicht den Earl selbst? Haben Sie aus persönlichen Gründen etwas dagegen, oder …“
„Dummes Mädchen!“, rief die Countess. „Mein Widerstand beruht auf der Tatsache, dass seit fünfzehn Generationen kein Marsden außerhalb der Aristokratie geheiratet hat. Und mein Sohn wird nicht der Erste sein, der das tut! Sie verstehen nicht, wie wichtig das Blut ist – Sie, die aus einem Land kommen, in dem es keine Traditionen gibt, keine Kultur und keinen Adel. Wenn der Earl Sie heiratet, wird es nicht nur sein Versagen bedeuten, sondern auch meines und den Niedergang jeder Frau und jedes Mannes, der mit den Marsdens verbunden ist.“
Diese Erklärung klang so übertrieben, dass Lillian beinahe gelacht hätte. Doch sie verstand zum ersten Mal, dass Lady Westcliffs Glaube an die Unverletzbarkeit der Marsden-Linie beinahe religiöse Inbrunst besaß. Während die Countess versuchte, die Fassimg wiederzuerlangen, fragte sich Lillian, wie sie wohl – und ob überhaupt – die Angelegenheit auf eine persönliche Ebene bringen und an die tief verborgenen Gefühle der Countess für ihren Sohn appellieren könnte.
Gefühle stellten Lillian immer vor Schwierigkeiten. Lieber äußerte sie geistreiche Kommentare oder auch zynische Bemerkungen, denn immer war es ihr zu gefährlich erschienen, aus dem Herzen zu sprechen. Doch dies hier war wichtig. Und vielleicht sollte sie versuchen, der Frau gegenüber ernsthaft zu bleiben, deren Sohn sie zu heiraten beabsichtigte.
Langsam begann Lillian zu sprechen. „Mylady, ich bin sicher, dass Sie tief in Ihrem Herzen nur das Glück Ihres Sohnes anstreben. Ich wünschte, Sie würden verstehen, wie sehr ich dasselbe Ziel verfolge. Es stimmt, ich bin nicht von Adel, und ich habe auch keine Politur in der Art, wie Sie es gern hätten …“ Sie hielt inne, um hinzuzufügen:
„Aber ich glaube – ich glaube, ich könnte Westcliff glücklich machen. Zumindest könnte ich ihm ein paar Sorgen abnehmen – und ich schwöre, ich werde nicht schwierig sein. Und wenn Sie sonst nichts glauben, so glauben Sie doch bitte, dass ich ihn niemals in Verlegenheit bringen will, oder Sie vor den Kopf stoßen …“
„Genug von diesem unerträglichen Unsinn!“, entfuhr es der Countess. „Alles, was Sie tun oder sind, stößt mich vor den Kopf. Auf meinem Anwesen möchte ich Sie nicht einmal als Dienstboten haben, geschweige denn als Herrin!
Meinem Sohn liegt nichts an Ihnen. Sie sind nur ein Symptom seines lang gehegten Grolls gegenüber seinem Vater – nichts als ein Versuch, aufzubegehren und sich gegen ein Gespenst zu wehren. Und wenn der Reiz des Neuen an seiner vulgären Braut erst einmal verflogen ist, wird mein Sohn Sie ebenso verachten, wie ich es tue. Aber dann wird es zu spät sein. Der Stammbaum ist verdorben.“
Lillian regte sich nicht, wenn sie auch fühlte, wie sie erbleichte. Bis jetzt, das wurde ihr in diesem Augenblick klar, hatte sie noch nie jemand voller Hass angesehen. Es war offensichtlich, dass die
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