Herbstfeuer
„Und ich werde die Gegend absuchen.“ Er wollte ein paar Dienstboten und einige der männlichen Gäste, darunter Lillians Vater, dazuholen.
Rasch überschlug er, wie lange Lillian schon fort war und wie weit sie in dieser Zeit zu Fuß auf relativ unwegsamem Gelände gekommen sein könnte. „Wir beginnen in den Gärten und werden die Suche dann auf einen Radius von zehn Meilen ausweiten.“ Als er Hunts Blick begegnete, deutete er mit einer Kopfbewegung zur Tür, und die beiden entfernten sich.
„Mylord“, hörte er Daisys angstvolle Stimme, sodass er kurz stehen blieb. „Sie werden sie doch finden, oder?“
„Ja“, erklärte er ohne Zögern. „Und dann werde ich sie erwürgen.“
Das entlockte Daisy ein Lächeln, und sie sah ihm nach, als er davonging.
Im Laufe des Nachmittags wechselte Marcus’ Stimmung von Verärgerung zu unerträglicher Besorgnis. Thomas Bowman, der davon überzeugt war, dass seine Tochter ihnen einen Streich spielte, befand sich bei einer Gruppe von Reitern, die den Wald und die umliegende Gegend durchsuchte, während eine andere Gruppe von Freiwilligen zum Fluss hinunterging. Das Junggesellenhaus, das Torhaus, das Haus des Verwalters, das Kühlhaus, die Kapelle, das Gewächshaus, der Weinkeller, die Stallungen und der Hof, alles wurde durchsucht. Und es gab nichts, keinen Fußabdruck und keinen verlorenen Handschuh, was auf Lillians Verbleib hinwies.
Während Marcus durch Felder und Wälder ritt, bis Brutus’ Flanken mit Schweiß bedeckt waren und er Schaum vor dem Maul trug, blieb Simon Hunt im Haus und befragte systematisch die Dienstboten. Er war der Einzige, dem Marcus zutraute, dass er diese Aufgabe ebenso gründlich erledigte, wie er selbst es getan hätte. Marcus seinerseits wollte sich mit niemandem geduldig unterhalten. Er wollte Köpfe gegeneinanderschlagen und jemanden würgen, bis er erfuhr, was er hören wollte. Zu wissen, dass Lillian irgendwo da draußen war, sich verlaufen hatte oder vielleicht verletzt war, erfüllte ihn mit fremdartigen Gefühlen, so glühend wie ein Feuer und so kalt wie Eis – ein Gefühl, in dem er irgendwann nackte Angst erkannte. Lillians Sicherheit ging ihm über alles. Die Vorstellung, sie könnte in einer Lage sein, in der er ihr nicht helfen, sie nicht einmal finden konnte, war ihm unerträglich.
„Sollen auch die Teiche und Seen durchsucht werden, Mylord?“, fragte William, einer der Diener, nach einem kurzen Bericht über den Fortschritt der Suche. Marcus sah ihn ausdruckslos an, während das Brausen in seinen Ohren lauter zu werden schien und das Blut geradezu schmerzhaft durch seine Adern pulsierte. „Noch nicht“, hörte er sich selbst mit erstaunlich ruhiger Stimme sagen. „Ich werde in mein Arbeitszimmer gehen und das mit Mr. Hunt besprechen. Falls sich in den nächsten Minuten etwas Neues ergibt, können Sie mich dort finden.“
„Jawohl, Mylord.“
Er ging zu seinem Arbeitszimmer, wo Hunt die Dienstboten nacheinander befragte, und trat, ohne zu klopfen, ein.
Hunt saß hinter dem breiten Schreibtisch aus Mahagoni, ihm gegenüber eines der Hausmädchen. Bei Marcus’ Anblick erhob sie sich hastig und knickste aufgeregt. „Setz dich“, stieß er hervor, und ob es an seinem Tonfall lag, an seiner ernsten Miene oder ganz einfach nur an seiner Gegenwart – das Mädchen brach in Tränen aus.
Erschrocken blickte Marcus zu Simon Hunt hinüber, der das Hausmädchen ruhig beobachtete.
„Mylord“, sagte Hunt, ohne das weinende Mädchen aus den Augen zu lassen, „nachdem ich diese junge Frau – Gertie – ein paar Minuten befragte, wurde deutlich, dass sie vielleicht etwas über Miss Bowmans Verabredimg heute Morgen und ihr darauf folgendes Verschwinden weiß. Doch ich fürchte, die Angst vor einer Entlassung veranlasst Gertie zu schweigen. Wenn Sie als Ihr Herr ihr versprechen würden …“
„Du wirst nicht entlassen“, sagte Marcus zu dem Mädchen, „wenn du mir jetzt sagst, was du weißt. Anderenfalls wirst du nicht nur entlassen, sondern auch angeklagt werden, an Miss Bowmans Verschwinden beteiligt zu sein.“
Gertie sah ihn aus großen Augen an. Ihre Tränen versiegten, als sie stotternd begann: „M-Mylord – ich wurde heute Morgen zu Miss Bowman mit einer Nachricht geschickt, aber ich durfte niemandem sagen – es war ein heimliches Treffen im Garten der Schmetterlinge – und sie sagte, wenn ich nur ein Wort davon verrate, dann werde ich …“
„Wer hat dich geschickt?“, wollte Marcus
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