Herbstfeuer
ausdruckslose Miene aufzusetzen. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Herrenhaus, als Zeichen für St. Vincent, Lillian dorthin zu bringen.
„Darf ich Sie auf meinem Pferd zurückbringen?“, erkundigte sich St. Vincent höflich.
„Nein“, erwiderte Westcliff kühl. „Sie kann verdammt gut laufen.“
St. Vincent befahl einem der Reitknechte, sich um die beiden Pferde zu kümmern. Dann reichte er der wütenden Lillian den Arm und zwinkerte ihr zu. „Das bedeutet den Kerker für Sie“, erklärte er ihr. „Und ich werde persönlich die Daumenschrauben ansetzen.“
„Ich würde jederzeit die Folter seiner Gesellschaft vorziehen“, erwiderte Lillian und knöpfte den langen Saum ihres Rockes zum Gehen hoch.
Als sie davongingen, erklang noch einmal Westcliffs Stimme, und Lillian erstarrte. „Auf dem Rückweg könntest du beim Eishaus Halt machen. Sie könnte etwas Abkühlung vertragen.“
Während er darum kämpfte, seine Haltung zurückzugewinnen, blickte Marcus Lillian Bowman nach mit einem Blick, der ihr den Rücken zu versengen drohte. Gewöhnlich fiel es ihm leicht, jede Situation mit Distanz und Objektivität zu betrachten. In den letzten Minuten allerdings hatte ihn jede Selbstbeherrschung verlassen.
Als Lillian auf das Hindernis zugeritten war, hatte sie für einen Augenblick den Halt verloren, was im Damensattel fatal sein konnte, und die überwältigende Angst, sie könnte stürzen, hatte ihn schwindeln lassen. Bei diesem Tempo hätte sie sich den Hals brechen können! Und er hatte nichts tun können außer Zusehen. Übelkeit hatte ihn erfasst, eiskalt war ihm geworden, und als diese kleine Närrin es fertiggebracht hatte, sicher zu landen, war seine Furcht glühendem Zorn gewichen. Die Entscheidung, zu ihr zu eilen, hatte er nicht bewusst getroffen, doch plötzlich hatten sie beide dagestanden, und er hatte ihre schmalen Schultern gefühlt. Am liebsten hätte er sie vor Erleichterung in die Arme geschlossen, sie geküsst – oder sie mit bloßen Händen erdrosselt.
Dass ihre Sicherheit ihm so viel bedeutete … darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
Stirnrunzelnd ging er zu dem Stallknecht hinüber, der Brutus am Zügel hielt. Tief in Gedanken versunken, hatte er kaum bemerkt, dass Simon Hunt den Gästen die Anweisung gegeben hatte, mit dem Springen zu beginnen, ohne auf den Earl zu warten.
Sein Freund näherte sich ihm zu Pferde. „Wirst du reiten?“, fragte Hunt ruhig, mit ausdrucksloser Miene.
Statt einer Antwort schwang Marcus sich aufs Pferd und schnalzte leise mit der Zunge. „Diese Frau ist unerträglich“ , murmelte er und warf Hunt einen Blick zu, der ihn davor warnte, das Gegenteil zu behaupten.
„War es deine Absicht, sie zu diesem Sprung zu treiben?“, fragte Hunt.
„Ich befahl ihr das genaue Gegenteil. Das musst du doch gehört haben.“
„Ja, ich und alle anderen ebenso“, sagte Hunt trocken. „Meine Frage bezog sich auf die Klugheit deines Vorgehens, Westcliff. Offensichtlich darf man einer Frau wie Miss Bowman nicht mit einem direkten Befehl kommen. Aber ich habe dich am Verhandlungstisch erlebt, und deine Überzeugungskraft wird von niemandem übertroffen, außer vielleicht von Shaw. Mit sanften Worten hättest du sie in weniger als einer Minute dazu bringen können, das zu tun, was du wolltest. Stattdessen waren deine Worte so feinfühlig wie ein Schlag mit der Keule, nur um dich als ihr Herr zu erweisen.“
„Dein Talent für Übertreibungen ist mir nie zuvor aufgefallen“, murmelte Marcus.
„Und jetzt“, fuhr Hunt gleichmütig fort, „hast du sie St. Vincents mitleidiger Fürsorge überlassen. Vermutlich wird er sie ihrer Tugend berauben, ehe sie das Herrenhaus erreicht haben.“
Marcus warf ihm einen scharfen Blick zu, und sein Zorn wurde plötzlich von Besorgnis verdrängt. „Das würde er niemals tun.“
„Warum nicht?“
„Sie ist nicht sein Typ.“
Hunt lachte leise. „Hat St. Vincent einen bestimmten Typ? Bei den Objekten seiner Begierde habe ich noch nie Gemeinsamkeiten entdecken können, abgesehen von dem Umstand, dass es sich um Frauen handelte. Dunkel, blond, rundlich, schlank – was seine Affären angeht, so ist er bemerkenswert unvoreingenommen.“
„Verdammt“, stieß Marcus hervor und erlebte zum ersten Mal in seinem Leben den herben Stich der Eifersucht.
Lillian konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn sie doch am liebsten zu Westcliff zurückgelaufen wäre und sich auf ihn
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