Herbstfeuer
funkelte Lillian an. „Ich hörte gestern, wie Sie darum baten, man möge Ihnen das Glas nachfüllen, Miss Bowman. Ein sehr schlechter Zug.“
„Aber Lord Westcliff füllte es ohne ein Wort nach“, widersprach Lillian.
„Nur um Ihnen noch mehr unerwünschte Aufmerksamkeit zu ersparen.“
„Und warum …“ Lillian verstummte, als sie die Miene der Countess sah. Sie erkannte, dass es ein sehr langer Nachmittag werden würde, wenn sie bei jedem Punkt um eine Erklärung bat.
Die Countess fuhr mit ihren Hinweisen auf die Sitten beim Dinner fort. „Pudding und Brei werden mit einer Gabel gegessen, nicht mit einem Löffel“, sagte sie. „Und sehr zu meinem Missfallen bemerkte ich, dass Sie beide Messer für Ihr Rissole benutzten.“ Sie bedachte die beiden mit einem Blick, als erwartete sie, dass sie vor Scham in den Erdboden versanken.
„Was ist Rissole?“, wagte Lillian zu fragen.
Vorsichtig erwiderte Daisy: „Ich glaube, das waren die kleinen braunen Pasteten mit der grünen Soße obendrauf.“
„Die habe ich gemocht“, erinnerte sich Lillian.
Daisy lächelte boshaft. „Weißt du, woraus sie gemacht waren?“
„Nein, und ich will es auch nicht wissen!“
Die Countess beachtete den Wortwechsel nicht. „Alle Rissoles, Pasteten und andere gemischte Speisen werden nur mit einer Gabel gegessen und niemals mithilf e des Messers.“ Dann hielt sie inne, um auf ihrer Liste nach der Stelle zu suchen, bei der sie stehen geblieben war. Ihre vogelartigen Augen kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen, als sie den nächsten Punkt vorlas. „Und jetzt“, sagte sie und sah Lillian vielsagend an, „kommen wir zu der Sache mit dem Kalbskopf …“
Stöhnend bedeckte Lillian ihre Augen mit einer Hand und ließ sich tiefer in ihren Stuhl sinken.
11. KAPITEL
Jene, die mit Lord Westcliffs energischem Gang vertraut waren, hätten überrascht beobachtet, wie er langsam vom Arbeitszimmer zum oberen Salon schlenderte. In den Händen hielt er einen Brief, dessen Inhalt ihn in den letzten Minuten sehr beschäftigt hatte. Doch so wichtig diese Neuigkeiten auch waren, so trugen sie doch nicht allein die Verantwortung für seine nachdenkliche Stimmung.
So gern er es auch geleugnet hätte, Marcus freute sich darauf, Lillian Bowman wiederzusehen. Und es interessierte ihn sehr, wie sie mit seiner Mutter fertig wurde. Aus jedem durchschnittlichen Mädchen würde seine Mutter Kleinholz machen, doch er ging davon aus, dass Lillian ihr gewachsen war.
Lillian. Ihretwegen kämpfte er um seine Selbstbeherrschung wie ein kleiner Junge mit einer Schachtel verschütteter Streichhölzer. Gefühlen misstraute er grundsätzlich, vor allem seinen eigenen, und jeder, der seine Würde zu erschüttern drohte, erfüllte ihn mit Abneigung. Die Marsdens waren berühmt für ihre Ernsthaftigkeit – Generationen ernsthafter Männer, die mit gewichtigen Aufgaben beschäftigt waren. Marcus’ eigener Vater, der alte Earl, hatte nur selten gelächelt. Tat er es doch, so war dem gewöhnlich etwas sehr Unerfreuliches vorausgegangen.
Der alte Earl hatte es sich zu seiner vorrangigen Aufgabe gemacht, jeden Hauch von Leichtsinn oder Heiterkeit in seinem einzigen Sohn zu ersticken, und wenn es ihm auch nicht ganz gelungen war, so hatte er doch einen großen Eindruck hinterlassen. Marcus’ Existenz war geprägt von Erwartungen und Pflichten – und Zerstreuung brauchte er von allen Dingen am wenigsten. Vor allem nicht durch ein rebellisches Mädchen.
Niemals hätte Marcus erwogen, ein Mädchen wie Lillian Bowman zu umwerben. Er vermochte sich nicht vorzustellen, dass sie im Kreise der britischen Aristokratie glücklich leben könnte. Ihre Persönlichkeit würde es ihr immöglich machen, sich in Marcus’ Welt einzufügen. Vor allem lautete die herrschende Meinung, dass er – da seine beiden Schwestern Amerikaner geheiratet hatten – den ehrwürdigen Stammbaum der Familie durch eine englische Braut weiterführen müsste.
Marcus hatte immer gewusst, dass er am Ende eine der zahllosen jungen Frauen heiraten würde, die jedes Jahr debütierten und einander so ähnlich sahen, dass es kaum eine Rolle zu spielen schien, welche er wählte. Jedes dieser scheuen, wohlerzogenen Mädchen würde seinen Ansprüchen genügen, und dennoch hatte er sich nie dazu durchringen können, eine von ihnen näher kennenzulernen. Lillian Bowman dagegen hatte ihn fasziniert, seit er sie zum ersten Mal sah. Einen logischen Grund gab es nicht dafür. Keineswegs war sie
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