Herbstfeuer
jetzt Ihrer Sisyphusarbeit überlassen.“
„Was heißt das?“, hörte er Daisy fragen.
Lillian antwortete, während sie Marcus anlächelte. „Wie es scheint, hast du eine Lektion in griechischer Mythologie zu viel verpasst, Liebes. Sisyphus war eine Seele im Hades, die auf ewig zu einer Aufgabe verdammt war – er musste einen riesigen Felsblock einen Berg hinaufrollen, nur damit er wieder hinunterrollte, kurz bevor er den Gipfel erreichte.“
„Wenn also die Countess Sisyphus ist“, folgerte Daisy, „sind wir wohl…“
„… der Felsblock“, ergänzte Lady Westcliff, und beide Mädchen lachten.
„Fahren Sie fort mit Ihren Unterweisungen, Mylady“, sagte Lillian und widmete der älteren Frau ihre volle Aufmerksamkeit, als Marcus das Zimmer verließ. „Wir werden versuchen, Sie auf dem Weg nach unten nicht zu überrollen.“
Den Rest des Nachmittags verbrachte Lillian in melancholischer Stimmung. Wie Daisy vorausgesagt hatte, waren die Unterweisungen der Countess nicht eben Labsal für die Seele, aber Lillians Betrübnis schien eine tiefere Ursache zu haben als jene, zu viel Zeit in der Gesellschaft einer reizbaren alten Frau verbracht zu haben. Es hatte mit dem zu tun, was Lord Westcliff gesagt hatte, nachdem er den Privatsalon der Marsdens mit der Neuigkeit über seinen gerade geborenen Neffen betreten hatte. Westcliff schien sich darüber zu freuen, während ihn die bittere Reaktion seiner Mutter nicht zu erstaunen schien. Der darauf folgende Wortwechsel hatte Lillian keinen Zweifel daran gelassen, wie wichtig – nein, notwendig – es war, dass Westcliff eine Braut aus guter Familie heiratete, wie die Countess sich ausgedrückt hatte.
Eine Braut aus guter Familie – eine, die wusste, wie man Rissole aß, und nie darauf käme, sich bei dem Dienstboten zu bedanken, der es ihr servierte. Eine die niemals den Fehler begehen würde, einen Raum zu durchqueren, um mit einem Gentleman zu sprechen, sondern nur dastand und darauf wartete, dass er auf sie zukam.
Westcliffs Braut würde eine zarte englische Blume sein mit aschblondem Haar, mit Rosenknospenmund und ernsthaftem Gemüt. Überzüchtet, dachte Lillian in einem Anflug von Feindseligkeit gegenüber dem unbekannten Mädchen. Warum sollte es sie so sehr beschäftigen, dass Westcliff eine Frau heiraten musste, die sich mühelos in sein adliges Leben einfügen würde?
Stirnrunzelnd erinnerte sie sich daran, wie der Earl am vergangenen Abend ihr Gesicht berührt hatte. Eine leichte Liebkosung nur, und doch vollkommen unangemessen, da sie von einem Mann kam, der ihr gegenüber keinerlei Absichten verfolgte. Und doch schien es, als hätte er nicht anders gekonnt. Es muss die Wirkung des Parfüms gewesen sein, dachte sie. Sie hatte es sich so amüsant vorgestellt, Westcliff wegen seiner unerwünschten Zuneigung ihr gegenüber zu quälen. Doch stattdessen war jetzt alles vertauscht. Sie war es, die gequält wurde.
Jedes Mal, wenn Westcliff sie ansah, sie berührte, ihr zulächelte, gab ihr das ein Gefühl, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Eine Sehnsucht, die sie Unmögliches begehren ließ.
Jeder würde sagen, dass sie ein lächerliches Paar wären, Westcliff und Lillian – vor allem angesichts der Tatsache, dass er einen reinblütigen Erben zeugen sollte. Es gab andere adlige Männer, die es sich nicht leisten konnten, so wählerisch wie Westcliff zu sein, Männer, deren Erbe dahingeschwunden war und die daher auf ihr Vermögen angewiesen waren. Mithilfe der Countess würde Lillian einen annehmbaren Kandidaten finden, ihn heiraten und diese lange Jagd auf einen Ehemann beenden. Aber – ihr kam ein neuer Gedanke – die Welt der britischen Aristokratie war klein, und es war beinahe sicher, dass sie Westcliff und seine englische Braut treffen würde, immer und immer wieder – diese Aussicht gefiel ihr ganz und gar nicht. Schlimmer noch, sie fand sie unerträglich.
Die Sehnsucht verwandelte sich in Eifersucht. Lillian wusste, dass Westcliff mit der Frau, die er heiraten sollte, niemals glücklich werden würde. Einer Frau, die er einschüchterte, würde er überdrüssig werden. Und ihr Gleichmut würde ihn langweilen. Westcliff brauchte jemanden, der ihn herausforderte und faszinierte. Jemanden, der durchdrang zu dem warmherzigen, sehr menschlichen Mann, der unter der Schale aristokratischer Selbstherrlichkeit lag. Jemand, der ihn ärgerte, ihn neckte und ihn zum Lachen brachte.
„Jemanden wie mich“, flüsterte Lillian
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