Herbstfeuer
stieß sie sich vom Fenster ab und verließ das Zimmer, zu beschäftigt mit ihren zornigen Gedanken, um die Tür abzuschließen, die nicht ganz hinter ihr zuschlug.
Es war Daisy, die als Erste sprach. „Heißt das, sie will, dass du Lord St. Vincent heiratest?“, fragte sie in ironischem Tonfall.
Lillian lachte freudlos. „Es würde sie nicht kümmern, wenn ich einen Verrückten heirate, solange blaues Blut durch seine Adern fließt.“
Seufzend ging Daisy zu ihr und drehte sich um. „Hilfst du mir mit dem Kleid und dem Korsett?“
„Was hast du vor?“
„Ich werde diese verflixten Dinger ausziehen und einen Roman lesen, und dann werde ich ein Schläfchen halten.“
„Du willst ein Schläfchen halten?“, fragte Lillian, die noch nie erlebt hatte, dass ihre Schwester sich freiwillig mitten am Tag hinlegte.
„Ja. Das Schütteln in der Kutsche hat mir Kopfschmerzen verursacht, und jetzt hat Mutter mir mit ihrem Gerede über Adlige den Rest gegeben.“ Daisys schmale Schultern wirkten verspannt. „Lord St. Vincent scheint dir zu gefallen. Wie denkst du wirklich über ihn?“
Vorsichtig löste Lillian die kleinen Schlingen von den geschnitzten Elfenbeinknöpfen. „Er ist amüsant“, sagte sie.
„Und attraktiv. Ich wäre versucht, ihn als gewissenlosen Tunichtgut abzutun – aber dann und wann sehe ich etwas unter der Oberfläche …“ Sie hielt inne. Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden.
„Ja, ich weiß.“ Daisys Stimme klang erstickt, weil sie sich bückte, um die Wogen des zarten geblümten Musselins über die Hüften nach unten zu streifen. „Und ich mag es nicht, was immer es sein mag.“
„Nein?“, fragte Lillian überrascht. „Aber heute Morgen warst du so freundlich zu ihm!“
„Man muss einfach zu ihm freundlich sein“, räumte Daisy ein. „Er besitzt jene Qualitäten, von denen Hypnotiseure reden. Sie nennen es animalischen Magnetismus. Eine natürliche Kraft, die Menschen anzieht.“
Lächelnd schüttelte Lillian den Kopf. „Du liest zu viele Zeitschriften, meine Liebe.“
„Nun, abgesehen von seinem Magnetismus scheint Lord St. Vincent zu der Sorte von Männern zu gehören, die nur aus Eigennutz handeln, und daher traue ich ihm nicht.“ Nachdem sie ihr Kleid über einen Stuhl gehängt hatte, zerrte Daisy entschlossen an den Schnüren ihres Korsetts und seufzte erleichtert, als sie es von ihrem schlanken Leib zog.
Wenn es je ein Mädchen gegeben hatte, das kein Korsett brauchte, dann war es Daisy. Doch für eine Dame gehörte es sich nicht, ohne zu gehen. Daisy warf das Korsett zu Boden, nahm ein Buch von ihrem Nachttisch und stieg ins Bett. „Ich habe noch eine Zeitschrift, falls du auch etwas lesen möchtest.“
„Nein, danke, ich bin zu ruhelos zum Lesen, und ganz gewiss kann ich nicht schlafen.“ Lillian warf einen nachdenklichen Blick auf die angelehnte Tür. „Ich glaube nicht, dass Mutter es bemerken würde, wenn ich hinausschleiche und im Garten spazieren gehe. In den nächsten beiden Stunden wird sie wohl über dem Adelsbericht brüten.“
Von Daisy kam keine Antwort, sie hatte sich bereits in den Roman vertieft. Lächelnd betrachtete Lillian das konzentrierte Gesicht ihrer Schwester, dann verließ sie lautlos den Raum und ging zum Dienstboteneingang am Ende des Korridors.
Nachdem sie den Garten betreten hatte, wählte sie einen Weg, den sie noch nie gegangen war, neben dem parallel scheinbar Meilen um Meilen makellos gestutzter Eibenhecken verliefen. Die Gärten mit ihren bewusst angelegten Strukturen und Formen müssen im Winter wunderschön sein, dachte sie. Wenn ein bisschen Schnee fiel, würden die Hecken und Statuen aussehen wie mit Puderzucker bestreut. Doch von diesem Septembergarten schien der Winter noch eine Ewigkeit entfernt zu sein.
Sie kam an einem Treibhaus vorbei und sah von außen die Platten mit Salatpflanzen und Schalen mit exotischem Gemüse. Draußen vor der Tür unterhielten sich zwei Männer, von denen einer vor einer Reihe hölzerner Schalen mit trockenen Wurzeln kauerte. In einem der beiden erkannte Lillian den schon etwas betagten Obergärtner. Als sie den Pfad am Gewächshaus weiterging, fiel ihr auf, dass der Mann am Boden, der eine Hose aus grobem Stoff und ein einfaches weißes Hemd ohne Weste trug, eine sehr muskulöse, kräftige Figur besaß, und bedingt durch seine Haltung spannte sich der Stoff seiner Kleidung auf eine überaus anregende Weise. Er hielt eine der Wurzeln in der Hand und betrachtete sie
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