Herbstfeuer
im Schatten lagen. „Den größten Teil meines Lebens habe ich zugesehen, wie Westcliff darum kämpfte, nicht so zu werden, wie sein Vater es wollte. Aber auf ihm lasteten hohe Erwartungen – und das bestimmt seine persönlichen Entscheidungen wesentlich häufiger, als es ihm selbst lieb ist.“
„Persönliche Entscheidungen wie zum Beispiel …“
Er sah ihr direkt in die Augen. „Wen er heiraten wird zum Beispiel.“
Lillian begriff sofort und bedachte ihre Antwort gründlich. „Es ist nicht nötig, mich deswegen zu warnen“, sagte sie endlich. „Mir ist wohlbewusst, dass Lord Westcliff niemals daran denken würde, jemandem wie mir den Hof zu machen.“
„Oh, er hat daran gedacht“, erwiderte St. Vincent zu ihrer Verblüffung.
Lillian stockte der Atem. „Woher wissen Sie das? Hat er Ihnen gegenüber so etwas erwähnt?“
„Nein. Aber es ist offensichtlich, dass er Sie begehrt. Wann immer Sie in der Nähe sind, kann er den Blick nicht von Ihnen wenden. Und als Sie und ich vorhin miteinander tanzten, sah er aus, als hätte er mich am liebsten mit dem nächstbesten scharfen Gegenstand durchbohrt. Dennoch …“
„Dennoch …?“, wiederholte Lillian fragend.
„Wenn Westcliff eines Tages heiratet, wird er eine konventionelle Wahl treffen – eine junge englische Braut, die keinerlei Ansprüche an ihn stellen wird.“
Natürlich. Niemals hatte Lillian etwas anderes erwartet. Aber manchmal war die Wahrheit nicht leicht zu ertragen.
Und es gab keinen vernünftigen Grund für sie, deswegen traurig zu sein. Sie hatte nichts zu verlieren. Westcliff hatte ihr keinerlei Versprechen gegeben oder auch nur ein Wort der Zuneigung geäußert. Ein paar Küsse und ein Walzer waren sogar zu wenig für eine unglückliche Romanze.
Warum fühlte sie sich dann so traurig?
St. Vincent beobachtete ihr Mienenspiel und lächelte mitfühlend. „Es wird vorübergehen, Süße“, murmelte er. „Das tut es immer.“ Er beugte sich vor, berührte erst ihr Haar mit seinen Lippen und dann die zarte Haut ihrer Schläfe.
Lillian hielt ganz still in dem Bewusstsein, dass das Parfüm, wenn überhaupt, dann jetzt auf ihn wirken würde. Aus dieser geringen Entfernung gab es für ihn keine Möglichkeit, der Wirkung zu entgehen. Doch als er zurücktrat, sah sie, dass er noch immer ruhig und gefasst war. Nichts in seiner Miene deutete auf die heftige Leidenschaft hin, die Westcliff ihr gegenüber gezeigt hatte. Verdammt, dachte sie mit einem Anflug von Enttäuschung. Welchen Nutzen hat ein Parfüm, das den falschen Mann anzieht?
„Mylord“, fragte sie leise, „haben Sie jemals eine Frau begehrt, die Sie nicht haben konnten?“
„Noch nicht. Aber man soll die Hoffnung niemals aufgeben.“
Sie antwortete mit einem verwirrten Lächeln. „Sie hoffen, sich in jemanden zu verlieben, den Sie nicht haben können? Warum?“
„Es wäre eine interessante Erfahrung.“
„Das wäre ein Sturz von einer Klippe auch“, gab sie sarkastisch zurück. „Aber ich denke, das lässt sich auch vom Hörensagen lernen.“
Lachend sah St. Vincent sie an. „Vielleicht haben Sie recht. Wir sollten Sie besser ins Haus zurückbringen, meine kluge kleine Freundin, ehe Ihre Abwesenheit zu offensichtlich wird.“
„Aber …“ Lillian begriff, dass das Zwischenspiel im Garten sich auf einen Spaziergang und ein kurzes Gespräch beschränken würde. „Das ist alles?“, platzte sie heraus. „Sie werden nicht …?“ Sie verstummte.
St. Vincent, der vor ihr stand, stemmte die Hände links und rechts von ihrer Hüfte auf den Tisch, ohne sie zu berühren. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich nehme an, Sie meinen die Freiheiten, die ich mir hätte herausnehmen sollen?“ Er beugte sich so weit vor, bis sein Atem ihre Stirn streifte. „Ich habe beschlossen zu warten, damit wir beide darüber noch ein wenig länger nachdenken können.“
Beunruhigt fragte sich Lillian, ob er sie unattraktiv fand.
Dem Ruf dieses Marines zufolge lief er allem nach, was Röcke trug. Ob sie wirklich von ihm geküsst werden wollte oder nicht, war gänzlich unbedeutend in Anbetracht der Tatsache, dass sie von einem weiteren Mann zurückgewiesen worden war. Zwei Körbe an einem Abend – das war ein bisschen viel für die Eitelkeit eines Menschen.
„Aber Sie haben versprochen, dass es mir besser gehen würde“, protestierte sie und wurde hochrot, als sie den erwartungsvollen Klang ihrer eigenen Stimme hörte.
St. Vincent lachte leise.
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