Herbstfeuer
achtlos hinter sich. Sie wirkte seltsam verlangsamt, als bewegte sie sich unter Wasser. Und ihr aufgestecktes Haar begann sich zu lösen. Im eigentlichen Sinne krank wirkte sie nicht. Tatsächlich schien sie …
Lillian bemerkte seine Gegenwart, drehte sich um und lächelte ein wenig schief. „Oh. Sie sind es“, sagte sie mit schwerer Zunge. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Regal zu. „Ich kann nichts finden. All diese Bücher sind so entsetzlich langweilig …“
Besorgt runzelte Marcus die Stirn und näherte sich ihr, während sie weiterplapperte und die Bücher durchsah.
„Dieses nicht – dieses auch nicht – o nein, nein, nein, dieses ist nicht einmal auf Englisch …“
Schnell wurde aus Marcus’ Panik erst Zorn und dann Belustigung. Verdammt. Falls er noch irgendeines Beweises bedurft hatte, dass Lillian Bowman nicht die Richtige für ihn war, so hatte er ihn jetzt. Die Gemahlin eines Marsdens würde niemals in die Bibliothek schleichen und trinken, bis sie, wie seine Mutter es ausdrücken würde, „ein wenig neben sich“ wäre. Dann sah er in ihre dunklen Augen, ihr gerötetes Gesicht und änderte seine Meinung.
Lillian war nicht nur ein wenig neben sich. Sie war ganz schlicht betrunken.
Mehr Bücher flogen durch die Luft, eines davon verfehlte nur knapp sein Ohr.
„Vielleicht kann ich helfen“, schlug Marcus höflich vor und stellte sich neben sie. „Wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen.“
„Etwas Romantisches. Etwas mit einem Happy-End. Ein Happy-End sollte es immer geben, oder?“
Marcus strich mit einem Finger eine ihrer Haarlocken zurück. Er hatte sich niemals für jemanden gehalten, der empfänglich war für Berührungen, aber es schien ihm unmöglich, sie nicht anzufassen, wenn sie ihm nahe war. Das Vergnügen, das die zarteste Berührung ihm bereitete, schien all seine Nerven zu erregen. „Nicht immer“, antwortete er auf ihre Frage.
Lillian lachte. „Wie typisch Englisch das doch ist. Sie lieben es so sehr, zu leiden, mit Ihrer aufrechten – Ihrer aufrechten …“ Sie blickte zu dem Buch, das sie in Händen hielt, und ließ sich von dem vergoldeten Deckel ablenken. „Ihrer aufrechten Haltung.“
„Wir lieben es nicht, zu leiden.“
„Doch, das tun Sie. Zumindest gehen Sie jeglicher Art von Vergnügen aus dem Weg.“
Allmählich gewöhnte sich Marcus an die einzigartige Mischung von Begehren und Belustigung, die sie in ihm weckte. „Es ist nicht verkehrt, Vergnügungen ganz für sich allein und im Stillen zu genießen.“
Lillian ließ das Buch fallen, drehte sich um und sah ihn an. Doch die Bewegung geschah zu abrupt, sodass sie taumelte und gegen die Regale sank, obwohl er versuchte, sie an der Taille zu halten. Ihre Augen blitzten, als hätte jemand Diamanten auf braunem Samt verteilt. „Es hat nichts mit Alleinsein zu tun“, erklärte sie ihm. „Die Wahrheit ist, Sie wollen nicht …“ Ein leichter Schluckauf bemächtigte sich ihrer. „Sie wollen nicht würdelos erscheinen. Armer Westcliff.“ Mitleidig sah sie ihn an.
In diesem Augenblick war die Sorge um seine Würde das Letzte, was Westcliff beschäftigte. Er stemmte die Arme links und rechts von ihr gegen das Regal, sodass sie dazwischen stand. Dann roch er ihren Atem, schüttelte den Kopf und flüsterte: „Kleines, was hast du getrunken?“
„Oh …“ Sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und ging ein wenig schwankend zu der Anrichte. „Ich zeige es Ihnen – ein wunderbares, wunderbares Getränk – hier.“ Triumphierend hob sie vom Rand der Anrichte eine fast leere Brandyflasche hoch. „Sehen Sie, was jemand getan hat – eine Birne, genau da drin! Ist das nicht klug?“ Sie hielt die Flasche ganz nahe an ihr Gesicht und betrachtete die eingeschlossene Frucht. „Am Anfang war es nicht so gut. Aber nach einer Weile wurde es besser. Vermutlich …“ Wieder der Schluckauf. „Vermutlich muss man sich an den Geschmack gewöhnen.“
„Das ist Ihnen, wie es scheint, gelungen“, bemerkte Marcus, der ihr gefolgt war.
„Sie werden es niemandem sagen, oder?“
„Nein“, versprach er feierlich. „Aber ich fürchte, sie werden es trotzdem erfahren. Außer wir schaffen es, Sie in den nächsten zwei oder drei Stunden nüchtern werden zu lassen, ehe sie zurückkehren. Lillian, mein Engel – wie viel war in der Flasche, als Sie angefangen haben?“
Sie zeigte ihm die Flasche und hielt den Finger ungefähr auf die Höhe eines Drittels. „So viel. Glaube ich.
Weitere Kostenlose Bücher