Herbstfeuer
werde Ihren Vater um die Erlaubnis bitten, Ihnen den Hof zu machen.“
Seine Liebkosung ließ ihr Herz schneller schlagen. „Ich bin nicht die einzige Erbin, die Sie umwerben können.“
Er strich mit dem Daumen über ihre Wangen und hielt dabei die Augen halb geschlossen. „Nein“, räumte er ein.
„Aber Sie sind mit Abstand die interessanteste. Die meisten Frauen sind das nicht, wissen Sie. Jedenfalls nicht außerhalb des Schlafzimmers.“ Er beugte sich weiter vor, bis sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte. „Ich wage zu behaupten, dass Sie auch im Schlafzimmer interessant sind.“
Nun, da sind sie also, dachte Lillian ein wenig benommen. Die lange erwarteten Freiheiten. Und im nächsten Moment dachte sie gar nichts mehr, als er sie zart mit den Lippen berührte. Er küsste sie, als wäre er der erste Mann, der das jemals getan hatte, langsam und behutsam, gekonnt, in einer Weise, die sie allmählich erregte. Selbst mit ihren begrenzten Erfahrungen erkannte sie, dass dieser Kuss mehr auf Technik beruhte als auf Gefühlen, aber ihren Sinnen schien das egal zu sein, weil er sie trotzdem dazu brachte zu reagieren. Er steigerte ihr Vergnügen ganz allmählich, bis sie stöhnte und matt den Kopf abwandte.
Bedächtig strich er über ihre glühende Wange und drückte sanft ihren Kopf auf seine Schulter. „Ich habe noch nie jemanden umworben“, sagte er leise ganz nahe an ihrem Ohr. „Jedenfalls nicht mit ehrbaren Absichten.“
„Für einen Anfänger sind Sie nicht schlecht“, erwiderte sie.
Lachend schob er sie ein Stück zurück und ließ den Blick über ihr erhitztes Gesicht gleiten. „Sie sind reizend“, sagte er leise. „Und faszinierend.“
Und reich, fügte sie im Stillen hinzu. Doch er gab sich große Mühe, sie zu überzeugen, dass er sie nicht allein aus finanziellen Gründen begehrte. Das wusste sie zu würdigen. Sie zwang sich zu lächeln und betrachtete den rätselhaften, aber charmanten Mann, der möglicherweise ihr Gemahl werden würde. Euer Gnaden, dachte sie. So würde Westcliff sie nennen müssen, wenn St. Vincent eines Tages den Titel erbte. Zuerst würde sie Lady St. Vincent sein und dann die Duchess of Kingston. Auf der sozialen Leiter würde sie über Westcliff stehen, und niemals würde sie ihn das vergessen lassen. Euer Gnaden, wiederholte sie und versuchte, sich mit diesen Silben zu trösten. Euer Gnaden …
Nachdem St. Vincent sie verlassen hatte, um zum Rennen zu fahren, ging Lillian langsam zum Haus zurück. Die Tatsache, dass ihre Zukunft allmählich klarer vor ihr lag, hätte sie erleichtern sollen, aber stattdessen fühlte sie Bedauern.
Im Haus war alles ruhig. Nachdem es in den letzten Wochen ständig voller Menschen gewesen war, erschien es ihr seltsam, nun durch die leere Eingangshalle zu gehen. Die Gänge waren still, nur gelegentlich ging ein Diener vorbei.
Vor der Bibliothek blieb sie stehen und warf einen Blick hinein. Ausnahmsweise war sie leer. Lillian trat in den einladenden, zweistöckigen Raum, an dessen Wänden sich Tausende von Büchern aneinanderreihten. Es roch angenehm nach Pergament, Leder und Papier. Wo an den Wänden keine Bücher standen, fanden sich gerahmte Landkarten und Stiche. Sie beschloss, sich ein Buch zu suchen, heitere Gedichte oder einen frivolen Roman. Doch bei den vielen ledernen Buchrücken, denen sie sich gegenübersah, fiel es ihr schwer festzustellen, wo sich die Romane befanden.
Während sie an den Regalen entlangging, fand Lillian reihenweise Geschichtsbücher, jedes einzelne schwer genug, um einen Elefanten zu pressen. Dann kamen die Atlanten, danach eine reiche Zahl mathematischer Texte, die bei den schlimmsten Fällen von Schlaflosigkeit helfen würden. Am Ende der Wand war ein Schrank eingelassen, der sich genau in das Regal einfügte. Ein großes, graviertes Silbertablett bedeckte die Oberseite, darauf stand eine verlockende Sammlung von Flaschen und Karaffen. Die schönste Flasche, auf deren Glas ein Blattmuster eingelassen war, war halb voll mit einer farblosen Flüssigkeit. Eine Birne im Innern erregte ihre Aufmerksamkeit.
Lillian hob die Flasche hoch und betrachtete sie genau, dann bewegte sie sie hin und her, bis die Birne zusammen mit der Flüssigkeit im Kreis herumschwamm. Eine perfekt erhaltene goldfarbene Birne. Das musste eine Art Eau-de-Vie sein, wie die Franzosen es nannten, ein farbloser Brandy aus Trauben, Pflaumen oder Holunderbeeren. Aus Birnen machte man ihn offensichtlich auch, wie es
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