Herbstfrost
konnte auch die Hausfront im Auge behalten, die vom
Licht auf der Veranda beleuchtet wurde. Die Hintertür war sicher wieder längst
versperrt.
Piritz hatte alle Trümpfe in der Hand und die Geduld eines Jägers.
Er wusste, dass die Möglichkeiten des Wildes praktisch gleich null waren. Von
Minute zu Minute sank die hypothetische Chance der Ausreißer. Nur zu bald
würden ihre Hände und Füße gefühllos werden und den Dienst versagen.
***
Zehn lange Minuten verstrichen, in denen sich außer den
Schneeflocken nichts zu bewegen schien.
Dann plötzlich ertönte ein lautes Krachen und Splittern auf der
Rückseite des Hauses: das Küchenfenster! Jutta hörte den Lärm so deutlich, als
stünde sie daneben.
Sie hatte es geschafft, den von Jacobi angegebenen Platz zu
erreichen. Gerade noch. Anfangs waren die Schmerzen unerträglich gewesen, aber
je länger sie durch den verschneiten Wald stolperte, umso weniger spürte sie.
Ihre Füße wurden taub. Nur einmal ließ sie die Taschenlampe aufflackern – dicht
am Boden, den Lichtstrahl richtete sie vom Haus weg.
Jetzt hockte sie keine fünf Meter vom Quattro entfernt hinter einem
Nadelgehölz, das zum Teil von den Mercedesscheinwerfern angestrahlt wurde.
Ihre Füße bluteten, die Hände fühlten sich schwer und klobig an, als
wären sie Fremdkörper. Wie sollte sie damit den Quattro aufsperren und
startklar machen? Außerdem musste Piritz von dort drüben wegfahren – zum Haus
hinüber! Er musste fahren! Musste, musste, musste …
Doch er tat es nicht, verharrte an Ort und Stelle. Das
Ablenkungsmanöver war zu plump, zu durchsichtig gewesen. Aus. Vorbei.
Jacobi würde jetzt wie ein Wahnsinniger durch den stockfinstren Wald
rennen. Und sollte er wider Erwarten ohne Taschenlampe hierherfinden, war
trotzdem alles umsonst.
Was hatte er gesagt? Besser erfrieren, als von Piritz erschossen zu
werden. Sie teilte seine Meinung nicht, wollte nicht wie ein Tier in einer
Schneekuhle verrecken. Vielleicht konnte sie sich mit Piritz ja doch noch
irgendwie …?
Nein, es war aussichtslos! Jacobi hatte ihr die Augen geöffnet –
öffnen müssen , weil sie sie bereits viel zu lange
zugekniffen hatte, nichts hatte sehen wollen. Piritz durfte sie nicht leben
lassen, wollte er seinen Platz an der Sonne behaupten.
Nun, dann wurde sie eben erschossen. Sie konnte und wollte nicht
mehr! Warum hatte sie diesen idiotischen Fluchtversuch überhaupt eingefädelt?
Wenn die Zeit eines Menschen abgelaufen war, dann war sie abgelaufen. Es war
sinnlos, sich dagegen zu sträuben.
Die lähmende Kälte drang auch in ihren Kopf. Sie erhob sich aus der
Hocke und war im Begriff, ins Scheinwerferlicht zu torkeln, als der Motor des
Geländewagens ansprang.
Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte sie der zurückkehrende
Lebenswille, und sie ging wieder in Deckung.
Piritz hatte sich tatsächlich zum Stellungswechsel entschlossen und
fuhr zur Verandatreppe hinüber. Um in den Quattro zu gelangen, blieben ihr nur
wenige Sekunden. Piritz würde vor der Treppe wenden und die Scheinwerfer erneut
auf Jacobis Wagen richten.
Sie musste auf der dem Haus abgewandten Beifahrerseite einsteigen.
Auf keinen Fall durfte sie die Taschenlampe zu Hilfe nehmen, um das
Schlüsselloch zu finden. Deren Aufblitzen würde im Rückspiegel des Mercedes zu
sehen sein. Außerdem hatte Jacobi ihr eingeschärft, die Wagentür behutsam
hinter sich zuzuziehen, damit nicht allzu viel Schnee vom Dach fiel.
Das Türschloss war weder vereist noch schwer zu ertasten, und doch
schien es ihr, als bräuchte sie eine Ewigkeit, um den Schlüssel hineinzustecken
und die Tür zu öffnen.
Kaum hatte sie sie hinter sich zugezogen, machte der tödliche
Scheinwerferstrahl kehrt. Sie hockte im Fußraum des Beifahrersitzes. Duckte
sich, so tief es ging. Wieder wurde der Quattro in grelles Licht getaucht.
Piritz spielte hervorragend Poker. Jutta hatte Gelegenheit gehabt,
ihn auf dem Landsitz derer von Framberg-Mauthen dabei zu beobachten.
Natürlich konnte das eingeworfene Fenster auf der Rückseite des
Hauses ein Bluff sein, ein Ablenkungsmanöver, aber es konnte auch das sein,
wonach es sich angehört hatte: der Versuch, ins Warme zu gelangen. Für die
Flüchtenden gab es unter den widrigen Umständen nur zwei Möglichkeiten: Haus
oder Auto!
Jetzt kam es drauf an: Bluffte Piritz seinerseits, oder hatte er
tatsächlich vor, den Urheber der zerbrochenen Fensterscheibe im Haus zu
stellen?
Immerhin wurden in der Diele Gewehre aufbewahrt, und in
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