Herbstfrost
schließlich Diplomkrankenpflegerin. Über erfrorene Gliedmaßen
brauchte ihr bestimmt niemand etwas zu erzählen.
Er schaltete das Innenlicht ein. »Mit dem Autotelefon rufst du jetzt
meine Dienststelle an. Kurzwahl drei. Dann drückst du die Lautsprechertaste.
Erzähl ihnen so knapp wie möglich, was Sache ist, und vergiss nicht, den Namen
des ehrenwerten Herrn hinter uns zu nennen. Egal, ob er uns erwischt oder
nicht: Piritz darf nicht ungeschoren davonkommen.«
Jutta wählte, und am anderen Ende wurde abgehoben.
»Landesgendarmeriekommando Salzburg, Delikte gegen Leib und Leben, Inspektor
Stubenvoll.«
Stubenvolls Stimme war wie ein Gruß aus der fernen Außenwelt, von
der sie abgeschnitten waren – vielleicht für immer. Die Schneedecke wuchs und
wuchs. Solange es bergab ging, schaffte es der Quattro noch, seine Nase oben zu
behalten, doch spätestens im Tal würde damit Schluss sein.
»Jacobi hier. Bin in einer scheußlichen Lage. Jutta Dietrich wird
Ihnen alles Nähere sagen.«
Jutta gab die wichtigsten Daten durch, während sie weiterhin ihre
Zehen massierte. Jacobi musste sich auf Kehre Nummer zwei konzentrieren. Der G
war zwar zurückgefallen, aber das konnte sich rasch wieder ändern. Weiter unten
würde Piritz todsicher seine Chance bekommen.
Kehre zwei bereitete keine nennenswerten Probleme. Jacobi wurde
nicht mehr unmittelbar verfolgt, und die Forststraße besaß hier, verglichen mit
der obersten Transversalen, eine fast großzügige Breite.
Unmittelbar hinter der Kurve erhöhte er drastisch die
Geschwindigkeit und steigerte das kalkulierte Risiko wieder zu einem
selbstmörderischen Va-banque-Spiel. Einen lebensverlängernden Vorsprung konnte
er nur jetzt herausfahren, in wenigen Minuten wäre die Möglichkeit hinfällig.
Plötzlich war Weider in der Leitung: »Oskar?«
»Ja, Alter, ich höre dich. Du, ich –«
»Ich weiß Bescheid, konzentrier dich aufs Fahren! Wir haben die
Alpingendarmerie Zell am See verständigt. Halt durch! Jede Minute, die du
herausschindest, kann wichtig für eure Rettung sein. Lass dich von diesem
Yuppie bloß nicht aufs Kreuz legen, hörst du? Du bist schon mit viel ärgeren
Typen fertiggeworden.«
Jacobis Blick fiel auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr fünfzig. Und noch
etwas bemerkte er: das gnadenlose Orange der Tankwarnanzeige. Hatte sie nicht
schon während der Anfahrt geleuchtet?
»Hans, wann kann die Alpingendarmerie bei der Gollehenalm sein?«
Weiders Antwort kam verzögert. »In einer knappen Stunde, denke ich.«
Zu spät. Viel zu spät! Hinzu kam, dass Weider log, um ihnen Mut zu
machen. Schon die Anfahrt von Zell nach Wörth dauerte, und bis zur Klausen
würden sie es jetzt ohnehin nur mehr mit speziellen Offroadfahrzeugen schaffen.
»Übrigens – wir haben Nilson gefunden«, sagte Weider, um das beredte
Schweigen zu überbrücken. »Besser gesagt: seine Leiche. Lag in unmittelbarer
Nähe seines Bootshauses in vier Metern Tiefe im See, in eine Persenning
gewickelt und mit einem Werkzeugkasten beschwert. Er ist von hinten mit einem
Stilett erstochen worden. Die Arbeit eines Profis.«
»Der Profi ist vermutlich seine Freundin Carina Talbusch, die
Geschäftsführerin des ›Paris-Lodron-Clubs‹«, klärte Jacobi ihn auf.
»Beta-Führerin und Protegé von Sorge. Er hat sie frühzeitig gewarnt, sodass sie
ihre Flucht planen konnte. In der Jubiläumsnacht hat sie Nilson ermordet und
von seinem PC aus der Hausbank der AIC den Auftrag erteilt, die zehn Millionen Dollar auf
die Cayman Islands zu überweisen. Unmittelbar danach hat sie seine Leiche nach
Schörfling rausgeschafft. Vielleicht erwischt ihr sie noch, aber ich bezweifle,
dass sie sich überhaupt noch in Europa aufhält.«
Kehre Nummer drei hatte er hart am Innenradius angefahren, um dem
Tiefschnee in der Kurvenmitte auszuweichen. Die rechten Räder hatten
einigermaßen Grip am Fuß der kurveninneren Böschung, doch der Wagen drohte
umzukippen. Jutta schrie auf, und beide lehnten sich reflexartig nach rechts,
sodass der Quattro wieder auf alle viere zurückfiel.
»Was ist los? Meldet euch!«, rief Weider entsetzt.
»Nichts, bin nur etwas zu knapp um die Kurve gefahren.«
»Ich … ich hab Lenz heute Nachmittag gesagt, dass du zu Frau
Dietrich raufgefahren bist«, stotterte Weider. »Jetzt kann ich ihn aber nicht
erreichen.«
»Schon gut, Hans. Er käme ohnehin zu spät. Du hast dir nichts
vorzuwerfen. Ich war der Idiot. Grüß Nadine und Melanie von mir, falls … falls
wir nicht planmäßig
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