Herbstfrost
neuen Erkenntnisstand zu akzeptieren.
»Also kein politischer Hintergrund?«
»Eher nicht. Und wenn, dann höchstens am Rande.«
»Und die ganzen SS -Analogien?«
»Staffage! Psychedelisches Theater und Bühnenzauber für die
Gamma-Kader, die die Drecksarbeit zu erledigen haben. Die sollen sich ja als
Exekutoren einer Idee fühlen, als Avantgarde einer Bewegung, in der nur die
Starken ein Recht auf Leben haben. Gott, wie mich das ankotzt! Wüssten diese
blutigen Dumpfbacken, dass sie nur Handlanger irgendeines zynischen
Gierschlunds sind, würden sie vermutlich weniger leicht bei der Stange zu
halten sein.«
»Und wie sehen die Einsparungen deiner Meinung nach aus? Kannst du
konkreter werden? Welche Konditionen machen die Verbrechen möglich?«
»Ich kann nicht zaubern, Oskar! Nur eines kann ich jetzt schon
sagen: Die Einsparungsstrategie steht und fällt mit einem ganz bestimmten
Pensionsversicherungsmodell. Die Gesellschaft lockt mit günstigen Einzahlungs-
und scheinbar noch günstigeren Auszahlungsmodalitäten – vorausgesetzt, der
Versicherte ist damit einverstanden, sich die Zusatzpension ausschließlich in
monatlichen Tranchen auszahlen zu lassen. Die pauschale Auszahlung nach Ende
der Laufzeit entfällt also. Der Speck in der Mausefalle: Die monatliche
Auszahlungsrate ist sehr gut dotiert. Und der Pferdefuß für die Angehörigen:
Beim Ableben des Versicherungsnehmers erlöschen sämtliche Verpflichtungen der
Gesellschaft.«
Die Ampel sprang auf Grün, aber sie kamen nicht weit: Schon auf der
Karolinenbrücke staute sich der Verkehr erneut von der Kreuzung
Unfallkrankenhaus her.
»Eine klare Sache«, sagte Jacobi. »Aber wie machen sie’s bei den
Lebensversicherungen? Die müssen doch in jedem Fall an die Begünstigten
ausgezahlt werden.«
»Die Lebensversicherungen sind mittlerweile weitgehend dem Standard
der Pensionsversicherungen angeglichen. Man spricht auch nicht mehr von Lebens-,
sondern auf gut Neudeutsch von Erlebens versicherungen
beziehungsweise Partnerversicherungen.«
»Partnerversicherungen? Soll das heißen, die –«
»Ja, genau das heißt es. Nach dem Tod des Primärerben gehen etwaige
Sekundärerben leer aus. Wieder eine Abweichung vom üblichen Standard.«
»Eigentlich eine durchaus sympathische Regelung, wenn man an die
derzeit gültigen Erbschaftsgesetze denkt«, sagte Jacobi in einem Anflug von
rabenschwarzem Humor.
»Aber weniger sympathisch, wenn du dabei an die Vermisstenabteilung
der Sökos denkst. Jeder Erbe kann über den Nachlass erst dann verfügen, wenn
der Tod des Erblassers amtlich ist. Bei Vermissten, deren Tod als
wahrscheinlich angenommen wird, dauert das in der Regel acht Jahre. Und
inzwischen kann der Begünstigte ebenfalls gestorben sein. Verstehst du? Nimm
Sarah Feldbach als Beispiel: Hätten Rolf und Co. sie im Reedsee versenkt, wäre
sie nie gefunden worden. Ihr Mann ist vor zwei Jahren verstorben, und beide
hatten eine Partnerversicherung mit dieser Gesellschaft abgeschlossen.«
»Das ist – da fehlen einem ja die Worte!«
»Die dritte Säule des Einsparungskonzepts sind die
Krankenversicherungen«, fuhr Weider fort. »Ein wahrhaft riesiger Posten. Die
Leute werden immer älter, die Zeitspannen, in denen sie medizinische Betreuung
benötigen, immer länger. Die medizinische Technik wird immer aufwendiger, und
die Medikamente werden immer teurer. Überschlag nur einmal ganz grob, wie viel
Geld ein Grabowsky der Versicherung erspart hat, indem er einen rüstigen
Siebziger gegen einen Baum hat fahren lassen, oder wenn eine ebenso vitale Pensionistin
sich vorgeblich beim Gardinenaufhängen das Genick gebrochen hat. Ich möchte mir
gar nicht vorstellen, wie die Sökos in Geriatriezentren, in Altenpflegeheimen
und in der Hauspflege gewütet haben oder wüten haben lassen. Mir wird ganz übel
bei dem Gedanken, dass man bettlägerige und wehrlose Menschen eingeschläfert
hat wie lästige, nicht mehr erwünschte Haustiere.«
Jacobi stand das Grauen ins Gesicht geschrieben.
»Und jetzt rechne alles einmal hoch«, subsumierte Weider. »Wir
kennen vorläufig nur die von Schremmer namhaft gemachten Fälle, die
logischerweise nur einen Bruchteil dessen repräsentieren, was da seit Jahren
über die Bühne gegangen ist. Eines jedenfalls ist klar: In den letzten fünf
Jahren müssten die Salden der Gesellschaft ein merklich anderes Bild bieten als
die Jahre davor.«
»Diese Salden werden wir hoffentlich bald zu Gesicht bekommen.«
Jacobi wurde zusehends
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