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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Gracher
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den letzten fünf Jahren erschreckend gealtert. Ihn jetzt
zu vernehmen, brachte höchstwahrscheinlich nicht nur nichts, sondern war mit
Blick auf die gewünschte Diskretion sogar noch mit Risiko verbunden.
    Julius Rottensteins Tochter Phryne stand mit ihrem Großvater und Leo
Piritz, dem Vizepräsidenten der OSTBAU , auf der
gegenüberliegenden Seite der Bar. Sie trug ein elegantes malvenfarbenes
Abendkleid, das gut zu ihren kastanienbraunen Haaren passte. Jacobi hatte sie
und ihren Vater zum letzten Mal beim Begräbnis von Livia Rottenstein gesehen.
In der Zwischenzeit hatte sie sich zu einer aparten Schönheit entwickelt, war
aber auch jener Art von Damen zuzurechnen, von denen Erich Kästner gesagt
hatte, sie hätten Beton in den Waden und Halbgefrorenes im Blick.
    Phryne ignorierte den betrunkenen Vater, dessen knarrendes Organ
weithin zu hören war, und unterhielt sich angeregt mit Piritz, dem exakten
Gegenteil von Rottenstein. Für einen Mann in seiner Position war er relativ
jung, mochte Mitte oder Ende dreißig sein. Ein nordischer Typ, groß gewachsen
und athletisch: der ideale Protagonist für Knäckebrotwerbung. Selbst im Frack
personifizierte er totale Fitness. Von einer Verstimmung zwischen ihm und
Phryne war nichts zu bemerken.
    Direkt neben ihnen baggerte Siegfried Nilson währenddessen Melanie
Kotek an. Der AIC -Direktor war dank Solariumsbräune
und dunkelblonder Löwenmähne noch immer ein sehr attraktiver Mann. Neben ihm
versuchten noch drei junge Spunde, die Jacobi nicht näher kannte, bei Kotek zu
landen. Kein Wunder: Das schwarze Nichts, das kaum ihren knackigen Po bedeckte,
war mehr als gewagt. Das Rückendekolleté reichte bis zum ersten ihrer
Lendenwirbel, der Ausschnitt vorn bis zum Nabel. Eine einzige Kordel, in
Kreuzverschnürung durch Ösen an Brust- und Rückenausschnitt geführt,
verhinderte, dass das filigrane Werk zu Boden glitt. Neben Melanie verblasste
selbst Phryne Rottenstein zu konservativer Beliebigkeit.
    Was die Herren der Schöpfung an diesem Abend in Kotek sahen, war
Schremmer für die Damenwelt: das Objekt der Begierde schlechthin. Umringt von
einem Rudel gurrender Sirenen stand er am Pool. Auch Ruth Maybaum schlenderte
in diesem Augenblick von der Bar zu ihm hinüber, ohne sich darum zu kümmern, ob
ihr Begleiter Paul Basidius ihr folgte oder nicht. Schremmer hatte weder Dom
Pérignon noch Kreditkarte nötig, um für Frauen interessant zu sein, dachte
Jacobi nicht ohne Neid.
    »Neid verursacht Magenbeschwerden, Hauptmann Jacobi«, raunte ihm
jemand ins Ohr. Er fuhr herum. Im Halbdunkel sah er einen verbindlich
lächelnden Goebbels-Typ vor sich stehen: Lysander Sorge, den allmächtigen Vize
der AIC . Jacobi hatte ihn nicht eintreten hören.
Er mochte Leute nicht, die sich so lautlos an einen heranschlichen. Außerdem
hatte Sorge Mundgeruch, ein Symptom für mangelnde Zahnpflege oder übersäuerten
Magen.
    »Ah, Dr. Sorge. So rasch hatte ich Sie gar nicht erwartet. Einen
Moment, ich mache Licht.«
    Jacobi betätigte einen Schalter und wandte sich dem Neuankömmling
wieder zu. »Bitte, setzen wir uns.«
    Sie gingen zum Konferenztisch, und Sorge nahm auf dem Stuhl Platz,
auf dem eben noch Theo Basidius gesessen hatte. Jacobi ließ sich ihm gegenüber
nieder.
    »Bernd Vogt, Ihr ehemaliger Chef, sagte mir, Sie wollen mich
sprechen«, begann Sorge, nachdem Jacobi keine Anstalten machte, das Gespräch zu
eröffnen.
    »Ja. Sie wissen, worum es geht?«
    Sorge nickte. »Phryne hat mich gestern angerufen. Aber … ich kann
das, ehrlich gesagt, immer noch nicht glauben. Der Gedanke, unsre Gesellschaft
hätte jahrelang aus … aus der organisierten Beseitigung alter Menschen Nutzen
gezogen, ist so … so absurd!«
    »Ich denke, wir sollten uns das beflissene Getue von wegen
Kulturschock et cetera lieber sparen«, sagte Jacobi. »Jede Gräueltat ist
absurd, solange sie nicht von den Tonangebenden zur Norm erklärt wird.«
    »Was soll das heißen, Jacobi? Warum so provokant? Sollte an dieser
makabren Geschichte wirklich etwas dran sein, dann fühl ich mich natürlich
mitverantwortlich. Aber ich habe nie –«
    »Sagen Sie jetzt nicht, Ihnen seien die für die AIC so vorteilhaften Todesfälle nicht aufgefallen«,
unterbrach ihn Jacobi. »Die vielen für Sie so günstigen Unfälle von Senioren.
Die vielen Vermissten, die nie mehr auftauchten. Die vielen so unerwartet früh
Verblichenen in Spitälern – und, und, und!«
    Über Sorges Nasenwurzel bildete sich eine steile Falte.

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