Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Stöckchen gejagt hat, und lege meine Zeichenmappe vor die
Kundin auf den Tisch. Ich will ihr die für sie bestimmten Entwürfe geben, doch sie
schnappt sich frech die ganze Mappe und schickt mich Kaffee holen.
»Aber …«
An Margrets
gerunzelter Stirn sehe ich, dass sie keinen Widerspruch hören will, also trotte
ich gehorsam wie ein Dienstbote über die Straße ins Schraders. Einziger Vorteil
an meinem Botengang: Ich kann mir selbst einen Kaffee holen und ein Croissant gleich
mit.
Als ich
zurückkomme, strahlt mich meine Kundin total zufrieden an.
»Du bist
großartig«, sagt sie. Sie sieht aus, als wollte sie mir gleich um den Hals fallen.
Ich lächle
zaghaft. Müdigkeit und Hetzerei sind schlagartig vergessen.
Margret
und Jola sind hinter ihren Nähmaschinen verschwunden und kümmern sich nicht um uns.
»Haben Sie
das violette Cocktailkleid ausgesucht?«, frage ich und reiche ihr den Kaffeebecher.
»Ich bin sicher, es würde Ihnen wahnsinnig gut …«
»Ich nehme
das!«, kreischt meine Kundin (eigentlich braucht sie gar keinen Kaffee, sondern
Valium) und hält mir ein Blatt vor die Nase.
»Dieses?!«
Mir rutscht ein leicht irritiertes Quieken heraus. »Das können Sie nicht nehmen.
Das ist doch …«
Ich fasse es nicht! Die Frau hat natürlich nicht nur die
ersten drei Blätter, die für sie bestimmt waren, angeschaut, sondern meine ganze
Mappe. Hinter den drei Entwürfen für ihren glanzvollen Auftritt befand sich alles,
was ich gestern gemalt habe, als ich im ›Vampir-Rausch‹ war. Und jetzt will sie
allen Ernstes eines der Kleider bestellen, die ich mir für Rosana, die Heldin des
Vampirmusicals, ausgedacht habe. Und damit nicht genug. Es soll ausgerechnet das
Kleid sein, das Rosana trägt, als sie in das Reich der Vampire eindringt und niemand
weiß, ob sie ebenso wie ihr Verlobter der Versuchung erliegt, zwar unsterblich,
aber für immer verdammt zu sein: ein tiefschwarzes Korsagenkleid mit langen engen
Spitzenärmeln. Das Besondere daran ist der Ausschnitt, der bis fast zum Bauchnabel
geht und die Brüste so verhüllt, dass man sie nicht wirklich sehen kann, doch bei
jeder Bewegung der Trägerin damit rechnet, dass es passiert.
Genau das
wird allerdings nicht geschehen. Dieses Kleid regt die Fantasie an, aber es entblößt
nichts. Es weckt Sehnsüchte, doch es erfüllt sie nicht. Wer es trägt, spielt ein
sehr verführerisches Spiel mit dem Feuer. Der lange schwingende Rock des Kleides,
der ab dem Oberschenkel geschlitzt ist, besteht aus unzähligen glänzenden schwarzen
Federn.
Dieses Kleid
gehört allein Rosana, die mit dem Bösen spielt, sich ihm jedoch nicht hingibt.
Es ist absolut
nichts für die einfach gestrickten Pläne meiner Kundin.
Davon abgesehen,
dass ich es zwar deutlich vor mir sehe, aber trotzdem niemals vorgehabt hatte, es
wirklich zu nähen.
»Es ist
doch nur eine Kostümidee«, hauche ich.
»Das Kleid
wird ihn umhauen«, sagt meine Kundin und ignoriert meinen Einwand. »Ich brauche
es nächsten Samstag, und ich zahle dir 10.000 Euro dafür.«
Ah ja, jetzt
ist es klar. Ich schlafe noch und habe mal wieder einen dieser völlig bekloppten
Träume, die man keinem erzählen darf, weil er einen sonst für komplett durchgedreht
hält. Ich hoffe nur, dass ich schnell aufwache, Basti neben mir liegt und mir sagt,
dass ich im Schlaf allerlei wirres Zeug geredet hätte.
Da kracht
es. Ich erschrecke, zucke zusammen und begreife, dass ich wirklich in der Werkstatt
bin. Jola hat soeben ihre Kaffeetasse umgeworfen und kniet sich hin um alles aufzuwischen,
wobei sie polnische Flüche oder was auch immer murmelt.
Die Kundin
will mir 10.000 Euro für die Ausgeburt meiner Fantasie zahlen, die außer Vicki und
mir nie jemand zu Gesicht bekommen sollte? Ich fasse es nicht!
In mir schrillen
plötzlich die Alarmglocken:
Du solltest
das Kleid nicht nähen, Rosa. Bestimmt reißt wieder eine Naht auf.
Was, wenn
Zeitungsleute bei der Party dabei sind? Dann weiß es gleich die ganze Stadt.
Was, wenn
du dich gnadenlos überschätzt und dein Kleid einfach lächerlich aussieht?
Jetzt bin
ich es, die sich kraftlos auf einen Stuhl plumpsen lässt.
Ich habe
auf einmal Angst, obwohl ich mich andererseits am liebsten gleich an die Nähmaschine
setzen würde. Seltsamer, beunruhigender Zustand.
»Also, was
ist?«, fragt die Kundin und schaut mich herausfordernd an.
»Nichts,
nichts ist«, sagt Margret. Sie stellt sich neben mich und legt mir beruhigend eine
Hand auf die Schulter. »Unsere Rosa
Weitere Kostenlose Bücher