Herbstwald
Hause. Ich habe das sofort gemerkt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie muss eine gute Erziehung genossen haben. Vielleicht war sie auf einem Internat für die Bessergestellten oder ihre Eltern hatten sogar das Geld für einen Privatlehrer. Ich weiß es nicht. Auch darüber haben wir nie gesprochen. Aber sie empfand es ganz offensichtlich als Befreiung, sich manchmal über die Konventionen der besseren Gesellschaft hinwegzusetzen, in der sie früher einmal verkehrt haben musste.«
»Woran haben Sie das bemerkt?« Davídsson sah wieder aus dem Fenster. Vor ihm trottete eine Schulklasse vorbei, die offenbar keine Lust auf einen Besuch in der Fuggerei hatte.
»Es war die Art, wie sie das Besteck neben die Teller legte und wie sie das Brot zugeschnitten hat, wenn sie es mir in mundgerechten Stücken hinstellte. Auch wenn sie das gerne verleugnete, konnte sie es doch nicht ganz verheimlichen.«
»Sie hat für Sie auch die Wäsche gewaschen.«
»Ja. Sie hat so ziemlich alles für mich gemacht.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«
»Diese Frage sollte ich mir eigentlich stellen. Ich nehme an, dass die Stiftung irgendeine Sozialhelferin anheuert, um mir zu helfen. So wie früher, bevor Catharina das übernahm.«
»Hat sie einmal etwas über ihre Kindheit erzählt?«
»Das sind überhaupt nicht die Fragen, die mir Ihre Kollegen gestellt haben.«
»Ich bin Kriminalanalytiker. Da muss man andere Fragen stellen.«
»So etwas wie ein Psychoklempner?«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.« Davídsson sah, wie sich die Miene von Moser verfinsterte.
»Ich bin auf die Bearbeitung von Kriminalfällen spezialisiert und habe keine Couch in meinem Büro, wenn Sie das meinen.«
Mosers Miene veränderte sich wieder. »Sie hat mir nie etwas über ihr Elternhaus erzählt. Ich glaube aber, dass sie ein Scheidungskind war oder sie war unehelich. So etwas in der Art jedenfalls. Sie war sehr anhänglich, glaube ich. Sie war ständig auf der Suche nach einer Freundin oder einer älteren Schwester. Sie suchte eine Frau, der sie ihre Probleme anvertrauen konnte und mit der sie ihre Gefühle teilen konnte.«
»Vielleicht hatte sie ja deshalb einen Hund«, überlegte Davídsson.
»Ich weiß nichts von einem Hund, obwohl es passen würde. Hunde sind die besten Freunde der Menschen, sagt man ja.«
»Und Ihnen konnte sie sich nicht anvertrauen?«
»Ein Mann kam dafür nicht in Frage. Daher glaube ich ja, dass sie ein Scheidungskind war. Bei Männern fühlte sie sich verletzlich, angreifbar.«
»Aber Sie haben es versucht?«
»Ich wollte nichts von ihr, falls Sie das meinen.«
»Nein.«
»Ich fand keinen Zugang zu ihrem Innern. Wir erzählten über dies und das, aber niemals erzählte sie von sich, von ihren Ängsten oder Gefühlen.« Moser stellte sich direkt neben Davídsson ans Fenster. Er hatte die Hände immer noch hinter seinem Rücken verschränkt. Die Handflächen waren ineinandergelegt, ohne dass sich die Fingerspitzen berührten.
»Und woher wissen Sie dann, dass sie eine Vertraute suchte?«
»Ich spüre so etwas.« Er sah Davídsson in die Augen. »Sie waren auch lange Zeit auf der Suche nach einem Vertrauten.«
Bevor Ólafur Davídsson etwas sagen konnte, wurde die Tür zum Besprechungsraum von Lilian Landhäuser geöffnet.
»Ach, hier sind Sie. Frau Hübner hat mir gesagt, dass wir den Raum als Einsatzzentrale benutzen können und ich wollte jetzt für ein paar Minuten meine Notizen vervollständigen. Ich hoffe, ich störe nicht.«
Davídsson schüttelte stumm den Kopf.
»Wir haben mittlerweile das Videoband, das die Spurensicherer im Rekorder in der Wohnung des Opfers gefunden haben. Wer hat heute überhaupt noch einen Videorekorder, fragt man sich da. Ich dachte bisher, die gibt es nur noch im Museum. Naja, ist ja auch egal. Sie können auch gerne eine Kopie von den Notizen haben, die ich von der Befragung von Herrn Moser gemacht habe.«
»Danke.« Davídsson bedeutete Moser, dass er gehen könne, und öffnete ihm die Tür. »Vielleicht komme ich später noch einmal bei Ihnen vorbei.«
Moser lächelte.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie die mobile Leinwand auf der fensterlosen Seite des Raumes aufgebaut hatten. Zunächst hatten es Davídsson und Lilian Landhäuser alleine versucht. Später waren auch noch Schedl und Hofbauer hinzugekommen, aber erst Elisabeth Hübner hatte die Wand zum Stehen gebracht.
Wie sollen wir einen Mordfall lösen, wenn wir nicht einmal eine einfache Leinwand aufbauen können,
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