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Herbstwald

Herbstwald

Titel: Herbstwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Guzewicz
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Davídsson nahm die Kassette aus dem Gerät und legte sie vor sich auf den Besprechungstisch. »Sowohl der rechten als auch der linken Szene wird unter anderem mit der Frisur eine politische Gesinnung ausgedrückt. Kahl geschorene Köpfe gehören zum Markenzeichen der Skinheads, der Hautköpfe. In der Punkszene rasiert man sich die Haare zu einem Irokesenschnitt. Beides war bei Catharina Aigner zumindest auf dem Video nicht zu sehen.«
    »Die Aufnahme könnte schon älter sein. Gibt es eigentlich einen Polizeibericht über diese Fahrt? So, wie die Fahrgäste sich aufgeregt haben, kann ich mir gut vorstellen, dass jemand die Polizei verständigt hat«, sagte Lilian Landhäuser.
    »Wir haben das noch nicht prüfen können«, antwortete Schedl.
    »Was ist mit dem Straßenbahntyp? Das ist doch ein älteres Modell mit den hohen Stufen und unbequemen Sitzen. Deutet das nicht auf eine ältere Aufnahme hin?«
    »Von denen gibt es nicht nur in Augsburg immer noch genügend.«
    »Dann müssen eben alle Einsatzberichte der letzten Jahre durchgesehen werden, wenn wir das anders nicht eingrenzen können.«
    Schedl seufzte. Die Arbeit würde offensichtlich an ihm hängen bleiben.
    »Wir sollten noch einen weiteren Aspekt in Betracht ziehen.« Davídsson war gerade eingefallen, wo er zuletzt kahlköpfige Frauen gesehen hatte. »Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden französischen Frauen, die sich während der Besatzung mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, die Haare vom Kopf geschoren.«
    »Das galt als Zeichen der Schande.« Hofbauer hatte begonnen, mit kleinen Bewegungen auf dem roten Stuhl hin und her zu schaukeln.
    »Eine Form der Bestrafung also?« Landhäuser umrahmte das Wort ›Strafe‹ in ihrem Collegeblock.
    »Aber wofür?« Hofbauer verharrte abrupt in seiner Bewegung.
    »Vielleicht eine Bestrafung für eine nicht beglichene Schuld oder Schulden, die sie hatte, bevor sie in die Fuggerei gezogen ist«, antwortete Landhäuser.
    »Diese Aufnahme hatte jedenfalls eine Bedeutung für sie.« Davídsson wollte den Fall nicht nur in eine Richtung durchdenken. Der kahl geschorene Kopf konnte mehrere Gründe haben, denen sie allen nachgehen mussten, bis eine Spur zum Täter führte.
    »Es war die einzige Videokassette, die wir bei ihr gefunden haben. Und sie wurde nicht überspielt, obwohl sie auch einen Rekorder besessen hat.« Davídsson dachte daran, was Lilian Landhäuser ein paar Minuten zuvor gesagt hatte: ›Wer hat heute überhaupt noch einen Videorekorder?‹. Vielleicht ist es ja tatsächlich eine alte Aufnahme, überlegte er.
    »Jedenfalls hatte sie keine Videokamera«, sagte Hofbauer.
    »Die Aufnahmefunktion von dem Gerät bei ihr in der Wohnung funktionierte doch, oder?« Davídsson sah erst Hofbauer und dann Schedl an, der nach kurzem Zögern nickte.

5
    D ie Pathologie hatte immer noch keinen vorläufigen Obduktionsbericht vorlegen können. Offenbar gab es Personalengpässe und viele Leichen im Keller der Gerichtsmedizin. Ólafur Davídsson war zurück ins Hotel gefahren, nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, dass der junge Mann mit der Videokamera ausfindig gemacht werden musste.
    Er brachte einige Hemden zur Rezeption, die er bis zum nächsten Morgen gereinigt haben wollte, und auch einen schwarzen Anzug, den er für die Abendessen im Urlaub eingepackt hatte, bevor er das Hotel in Richtung Altstadt verließ.
    Sein Urlaub war bereits jetzt in weite Ferne gerückt. Sein Kopf arbeitete auf Hochtouren. Er dachte an das junge Mädchen und den noch ungeklärten Tod.
    Die Straßen waren eng und dunkel. Ab und zu sah er noch Menschen herumlaufen. Er dachte an die Fuggerei. Die Bewohner mussten längst beim Nachtwächter am Ochsentor klingeln und 50 Cent zahlen, um zu ihren Häusern zu kommen. Bald würde die Gebühr auf einen Euro ansteigen. Um Mitternacht war es soweit und bis fünf Uhr würde sich das nicht ändern.
    Vielleicht gibt es so etwas wie ein Buch, in das alle Spätankömmlinge eingetragen werden, überlegte er.
    Catharina Aigner musste sicher oft die Gebühr nach 22:00 Uhr zahlen, um in die Siedlung zu kommen. Oder war es eine Strafe, die man zahlen musste?
    Sie war noch jung. Jünger als die meisten anderen Bewohner, und sie wollte noch etwas erleben. Das hatte er gesehen, als er für einen Augenblick ihre blauen Augen auf dem Videoband erkennen konnte. Sie hatte noch Energie und genoss das Leben in vollen Zügen.
    Er hatte auf dem Band nicht erkennen können, ob es eine Straßenbahnfahrt im Winter oder

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