Herbstwald
hatte Davídsson überlegt. Er schaltete den Projektor ein und Schedl schob die Videokassette in das geliehene Gerät.
Vor ihnen tauchte das junge Mädchen in einer Straßenbahn auf. Sie wirkte fröhlich, lebendig. Das Licht auf den Tatortfotografien unterstrich in den meisten Fällen die kalte Ausstrahlung einer Leiche. Hier war es auch so gewesen. Davídsson sah das Opfer jetzt zum ersten Mal lebendig. Mit natürlichen Farben und ohne zugeschnürte Plastiktüte über dem Kopf. Nur so konnte man eine Beziehung zu jemandem aufbauen.
Catharina Aigner war schrill geschminkt. Ihre Kleidung passte zum farbenfrohen Make-up. Sie trug einen leuchtend grünen Minirock und ein pinkfarbenes Top. Beides wurde offenbar von einem schwimmbadblauen breiten Gürtel zusammengehalten. Ihre Fingernägel waren in unterschiedlichen Farben lackiert, ebenso wie die runden Kunststoffohrringe, in denen auch ein Papagei Platz gefunden hätte.
»Eine schillernde Person«, kommentierte Landhäuser, die eher konservative Kleidung bevorzugte. Sie trug einen weißen Rollkragenpullover aus Angorawolle, kleine Perlenstecker in den Ohren und eine schlichte hellblaue Armani-Jeans.
Die Videokassette lief weiter.
Auf der Leinwand turnte Catharina Aigner an einer Stange herum, als sei sie in einem Striptease-Klub auf einer Bühne. Die Musik, die aus einem Gettoblaster kam, übertönte das metallene Schrammen und Quietschen der Schienen, die von den Stahlrädern der Bahn gequält wurden. Es war Punk.
Die Fahrgäste im Hintergrund beschwerten sich über die Musik und ihr Verhalten. Ólafur Davídsson sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten und sich empörten. Eine rüstige ältere Dame stand auf und sprach mit Catharina Aigner. Die Musik war so laut, dass sie nicht verstehen konnten, was gesagt wurde. Sie konnten nur das laute Lachen von Catharina Aigner und den Kameramann hören, der seinen Mund offensichtlich direkt neben dem Mikrofon hatte.
»Alte Spießer-Schachtel«, schepperte seine verzerrte Stimme über die Boxen.
Catharina Aigner schien sich zu amüsieren. Die Kamera wirbelte ein paarmal um sie herum, als sie die Stange ein Stück nach oben kletterte. In einer scharfen Kurve glitt sie wieder zu Boden und verlor für einen kurzen Moment den Halt.
Dann zitterte das Bild für ein paar Augenblicke und man sah Werbeaufkleber über den Fenstern und schließlich die Decke der Straßenbahn über die Leinwand wackeln.
Die Musik brach für ein paar Sekunden ab.
Sie hörten ein Stöhnen und ein paar schmatzende Geräusche. Catharina Aigner schien den Kameramann wild zu küssen, und der konzentrierte sich lieber auf sie als auf eine ordentliche Aufnahme.
Entweder sie will nur noch mehr provozieren oder sie liebt ihn wirklich, überlegte Davídsson, als das Bild wieder auf die junge Frau schwenkte, die irgendwann danach tot in der Fuggerei aufgefunden worden war.
»Vermutlich hätte sie an diesem Abend jeder gerne umgebracht, der bei dieser Fahrt dabei gewesen ist«, sagte Kriminalkommissar Schedl, als das Band stoppte.
»Nach einem anstrengenden Arbeitstag wäre mir das sicher auch so gegangen«, meinte Hofbauer.
Davídsson dachte an die wenigen Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die er notgedrungen nach seinem Unfall in Berlin gemacht hatte.
Er wusste, was Schedl und Hofbauer meinten.
Ihm waren die Bettler und Obdachlosenzeitungsverkäufer auf die Nerven gegangen, die drei- oder viermal auf einer Strecke ihre auswendig gelernten Sätze herunterrasselten, um ihre Zeitungen zu verkaufen.
Er hatte sich damals immer wieder gefragt, ob sich das Geschäft überhaupt lohnte. Es gab so viele Verkäufer und nur wenige kauften eine Zeitung. Außer von ein paar Touristen oder besonders sozial engagierten Menschen wurden die Verkäufer von den Fahrgästen ignoriert. Am Anfang hatte er selbst noch Mitleid gehabt, aber als bei jeder Haltestelle ein neuer Verkäufer durch das Abteil zog, wurde es nervig.
»Wer war der Typ, der sie dabei gefilmt hat?«, fragte er, ohne etwas zu dem Thema zu sagen.
»Vielleicht ihr Freund?« Hofbauer stand auf, um die Vorhänge aufzuziehen.
»Das würde zu den Kondomen passen«, sagte Landhäuser und sah dabei Hofbauer mit unschuldiger Miene an.
»Sie provoziert gerne ihre Umwelt«, sagte Schedl und Davídsson fragte sich, ob er Landhäuser oder Catharina Aigner mit dieser Aussage meinte.
Sie schwiegen einen Moment.
»Auf dem Video hat Catharina Aigner braunes, schulterlanges glattes Haar.« Ólafur
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