Hercule Poirots Weihnachten
er hervor. «Ein Mord! Am Heiligen Abend – ein Mord!»
Poirot hob erstaunt die Augenbrauen. «Sind Sie ganz sicher? Ich meine, dass es Mord ist?»
«Wie? Ach so. Ja, es ist gar nichts anderes möglich. Ein absolut klarer Fall. Mord – und ein sehr brutaler dazu!»
«Wer ist das Opfer?»
«Der alte Simeon Lee, einer der reichsten Männer dieser Gegend. Machte in Südafrika ein Vermögen. Mit Gold, nein, mit Diamanten, wenn ich nicht irre. Und außerdem verdiente er Unsummen mit technischen Verbesserungen der Bergbaumaschinen – irgendetwas, das er selber erfunden hat, soviel ich weiß. Man sagt, dass er mindestens doppelter Millionär sei.»
«Und war er sehr beliebt?»
«Ich glaube nicht, dass jemand ihn liebte», erwiderte Johnson langsam. «Ein eigentümlicher Kauz. Er war seit Jahren invalide. Ich selber habe ihn nicht näher gekannt, aber er war zweifellos eine der auffallendsten Erscheinungen weit und breit.»
«So dass dieser Fall also ziemlich Staub aufwirbeln wird?»
«Allerdings! Ich muss sofort nach Longdale hinüber.»
Poirot stellte die unausgesprochene Frage von sich aus.
«Möchten Sie, dass ich Sie begleite?»
Johnson sagte ein wenig betreten: «Nun, ich darf es Ihnen wirklich kaum zumuten. Aber Sie wissen ja, wie das ist: Inspektor Sugden ist ein guter Polizist, genau, sorgfältig, durch und durch verlässlich, nur – Fantasie hat er nicht viel. Da Sie zufällig hier sind, würde ich natürlich gerne von Ihrer Ansicht und Ihrem Rat profitieren.»
Er hatte vor lauter Verlegenheit fast abgehackt gesprochen. Poirot erwiderte schnell:
«Ich komme mit Begeisterung. Sie können auf meine Mithilfe rechnen. Aber wir dürfen den guten Inspektor nicht beleidigen. Das ist sein Fall – nicht der meine. Ich werde lediglich als sachverständiger Beobachter fungieren.»
«Sie sind wirklich ein Freund, Poirot», sagte Johnson warm.
Ein Polizist öffnete ihnen die Eingangstür und salutierte stramm. Hinter ihm kam Inspektor Sugden durch die Halle.
«Ich bin froh, Sie hier zu sehen, Sir. Wollen wir in den Raum gleich links gehen – Mr Lees Arbeitszimmer? Ich möchte den Fall kurz mit Ihnen durchgehen. Das Ganze ist eine scheußliche Sache.»
Er führte die beiden Herren in ein kleines Zimmer auf der linken Seite der Halle. Ein großer, mit Papieren bedeckter Schreibtisch nahm die Mitte des Raums ein; die Wände waren von Bücherschränken verdeckt.
Der Colonel stellte vor: «Sugden, das ist Hercule Poirot, von dem Sie bestimmt schon gehört haben. Er war zufällig bei mir. Inspektor Sugden.»
Poirot machte eine kleine Verbeugung und betrachtete den andern. Er sah einen groß gewachsenen Mann mit breiten Schultern, militärischem Gehabe, einer schmalen, langen Nase, kühner Kinnpartie und einem großen, dichten braunen Schnurrbart. Sugden starrte Hercule Poirot an, Hercule Poirot starrte fasziniert Sugdens Schnurrbart an.
«Gewiss habe ich schon von Ihnen gehört, Mr Poirot», sagte der Inspektor. «Sie waren doch vor einigen Jahren hier in England, nicht wahr? Der Fall von Sir Bartholemew Strange. Giftmord, Nikotin. Nicht in meinem Distrikt, aber natürlich weiß ich davon.»
«Also, Sugden, was ist hier passiert?», unterbrach ihn sein Vorgesetzter. «Ein ganz klarer Fall, sagten Sie.»
«Jawohl, Sir, Mord, ganz ohne Zweifel. Mr Lees Kehle ist durchschnitten und die Halsschlagader dabei verletzt worden, stellte der Arzt fest. Aber irgendetwas stimmt bei der Sache nicht. Die Umstände liegen folgendermaßen: Heute Nachmittag um fünf Uhr erhielt ich im Addlesfielder Polizeibüro einen Anruf von Mr Lee. Er schien verwirrt, bat mich, um acht Uhr abends vorbeizukommen und dem Butler zu sagen, ich sammelte für irgendeine unserer Wohltätigkeitsinstitutionen.»
«Er suchte also nach einem plausiblen Grund, um Sie ins Haus zu bekommen?»
«Jawohl, Sir. Nun, Mr Lee ist eine so wichtige Persönlichkeit, dass ich natürlich zu kommen versprach. Kurz vor acht war ich hier und sagte, ich käme für die Sammlung zugunsten des Polizeiwaisenhauses. Der Butler meldete mich an und führte mich dann in das Zimmer von Mr Lee im ersten Stock, das direkt über dem Speisezimmer liegt.»
Sugden machte eine Pause, holte Atem und fuhr dann mit seinem Rapport fort.
«Mr Lee saß in einem Lehnstuhl vor dem Kamin. Er trug einen Schlafrock. Mr Lee bot mir dicht neben sich Platz an und sagte dann ziemlich zögernd, dass er mir einen Diebstahl zu melden habe. Er habe Grund, anzunehmen, dass Diamanten -
Weitere Kostenlose Bücher