Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
unterkommen.
Man sieht: die Calwer Bibliothek bot allerlei Anregung und schon
bleibende Freunde. Es läßt sich ja von solchen ersten Studien kaum
absehen, wie bestimmend sie für die Entwicklung sind; denn
wesentlich bleiben ja nicht die Lesefrüchte, wesentlich bleibt das
eigene Weitergreifen und Wählen. Bezeichnend ist, und darauf
möchte ich noch hinweisen, daß Hesse aus jenen Beständen die
Herder und Lessing nicht nennt. Beide stehen dem Pietismus nahe.
Herder hat die poetische Auffassung der heiligen Schriften eingeleitet
und berührt sich nahe mit Zinzendorf, für den alles Religiöse und
sogar Alltägliche zu einem Reime wird
Holdselig und allmächtiglich,
Bluthäuptig
und
Leibträchtiglich.
Lessing aber war eine literarische Liebhaberei des Vaters Johannes
Hesse, der ihn öfters in seinen Schriften erwähnt, so daß sein Name
den vollen Glanz für den Sohn nicht mehr haben mochte. Auch er,
Lessing, stand sympathisch zum Pietismus. Beide, Lessing und
Herder, traten ja dafür ein, daß Frömmigkeit nicht eine
Angelegenheit theologischer Debatten und giftiger Disputationen,
sondern eine solche des Herzens und der Phantasie, des ganzen
Menschen sei.
Ein Name, von dem ich bis jetzt geschwiegen habe, ist derjenige
Goethes. Sehr bald, nach jenen ersten Studien im Vaterhaus, tritt
Hesse in die Heckenhauersche Buchhandlung ein; bezieht er die
schwäbische Universität. Nicht als Student und immatrikuliert; nicht
als einer der Dutzende ländlicher Störzer, die ihre »munteren
Knabenjahre in Zechgelagen ersäufen«. Auch nicht als eines der
freundlichen Püppchen, die nur in der Ausnahme noch der
stanzenden Schablone entgehen. Er bezieht die Universität als
Buchhändler. Er ist begierig, die Bedingungen seines Berufs und
derjenigen kennenzulernen, an die er als Dichter und Schriftsteller
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später sich wenden wird. Und wo könnte man die Erwartungen,
Träume und Widerstände des Publikums, seinen Bildungsgrad, seine
Bedürfnisse, seine wie immer geartete Seele besser kennenlernen als
im Buchhandel? Wo könnte man als Literat die Erfordernisse des Stils
(Einfalt, Klarheit, Verzicht auf exzentrisches Wesen), wo könnte man
all das besser erwerben als hier? So ist Emile Zola Buchhändler
gewesen, ehe er seine Bücher schrieb, und so ist es Hesse, ehe er
den letzten Ausdruck des Europäers und Asiaten in eine nach vielen
Tausenden zählende Gemeinde trägt, als seien die Dinge, die er
mitteilt, die alltäglichsten der Welt.
Die ersten zwei Tübinger Jahre sind fast ausschließlich dem Studium
Goethes gewidmet. Hesse liest den »Wilhelm Meister« und vergleicht
ihn wohl auch mit Goethes Biographie. Es existiert keine Äußerung
darüber, doch ist es nicht schwer zu erraten. Bei seiner
Empfindlichkeit für Gegensätze konnte ihm nicht entgehen, daß im
»Meister« ein Widerspruch vorgetragen wird, der den Schlüssel zum
ganzen Buche bietet. Das leichtlebige Komödiantentum, mit dem der
Roman beginnt, stößt sich heftig mit den nachfolgenden
»Bekenntnissen einer schönen Seele«. Diese Bekenntnisse hätten
ihrem frommen Inhalte nach ebenso aus der Feder von Hesses
Mutter stammen können wie von jenem seltsamen Fräulein von
Klettenberg, das einen so beträchtlichen Einfluß auf Goethes
Jugendentwicklung und sogar auf seine Freundschaften hatte. Und
merkwürdig: das Komödiantentum nebst der unbändigen Tuba
Shakespearescher Narren war offenbar befürwortet und von Goethe
enthusiastisch begrüßt, die Bekenntnisse einer schönen Seele aber
waren dies keineswegs. Auf dem Weg zu Lotharios Schloß erhielt sie
»Wilhelm Meister« von Aureliens Arzt. Die Bekenntnisse waren also
skeptisch aufzunehmen; als ein Dokument, das nach Goethes
Meinung einer pathologischen Betrachtung nicht überhoben war.
Forschte man in der Biographie nach, so fand man Goethe vollends
von Pietisten umgeben. Von jenem frommen Fräulein aus seinem
Vaterhaus angefangen über den Messias-Dichter und den
halbpietistischen Herder bis zu den Freunden der Klettenberg, dem
phantastischen
Propheten
Lavater
aus
Zürich
und
dem
alchimistischen Arzte Jung-Stilling: immer wieder sind es Pietisten,
mit deren besonderer, Hesse wohlbekannter Frömmigkeit das
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Frankfurter Weltkind sich auseinanderzusetzen hat. Teufel auch! Es
war doch eine mächtige, eine tief nationale Bewegung, dieser
Pietismus, der den poesiefeindlichen Rechenmeistern entgegentrat
und ihr hölzernes Räsonieren
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