Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
von Schwermut
und Selbstversunkenheit aus Hesses Büchern nicht geschwunden.
Bald tief versteckt, bald offen klagend und werbend teilt sich die
Sehnsucht nach einer Art Urheimat, nach dem Quellgrund alles
Lebens mit; nach dem verbergenden Schoße der Wiedergeburt. Die
Erinnerung selbst ist die Mutter des Dichters; immer wieder umkreist
er jenen Bezirk des Unsagbaren, der dem Bewußtsein entzogen ist.
Immer wieder versucht er, in jene Weit zu dringen, die als die
unterirdische Nacht des Grabes, des Todes und aller Lebenskeime
getrennt ist vom lichten Götterglanze, vom Intellekt und seiner
Irrfahrt.
Doch ein anderes ist das enthobene und geheiligte Bild der Mutter,
und ein anderes das materielle, das physische. Mit dem letzteren
verbindet sich die Neigung des Kindes in jenen ersten, frühesten
Jahren, in denen noch keine Trennung besteht zwischen irdisch und
himmlisch, und zwischen Diesseits und Jenseits. Und doch wird eine
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Zeit der Scheu und des Gewissens kommen und mit ihr die Nötigung,
das himmlische Bild vorn irdischen zu trennen, weil die erwachenden
trüberen Leidenschaften sich einmengen und jene Trennung
gebieten. Dann wird, in der Gärungszeit, eine schwere Verwirrung
der Neigungen entstehen, die bei der Treue des Kindes bis zur
Neurose führt.
Bleibt die Vermischung der Bilder erhalten, so werden
Beängstigungen
und
nächtliche
Schrecken,
Alpdruck
und
Blasphemie, giftige, stachelnde Skrupel von unbekannter Herkunft
den Traumwandler entsetzen und scheuchen. Seine grübelnde
Phantasie umgibt ein drohendes Geheimnis; umgibt eine Sphäre, die
zur Absonderung und Melancholie, zur Revolte und Ausfälligkeit, zu
feindlichen Handlungen führt. Alle Süße wird zur Bitterkeit. Das
stetige Umkreisen des unlösbaren Rätsels fesselt die sonst dem
Leben zuströmenden Einfälle und Gedanken. Das Bild der Mutter
saugt alle Symbolkraft, alle Zeichen, denen eine mütterliche
Bedeutung beigelegt werden könnte, an sich. Das Bild der Mutter
umgibt sich mit Fisch und Vogel, mit Sumpf und Abgrund; mit all
jenen Ideogrammen, deren Schrift in den Tempeln der Mutterkulte
zu finden ist.
Für den Dichter, dem diese Blätter gewidmet sind, erhielt dieser
allgemeinere Konflikt eine besondere Schärfe durch die äußerste
Gewissensstrenge und Zucht seines Vaterhauses. Schon in frühester
Jugend empfindet er sich als Greis; im Alter und mit der Lösung wird
er sich jung empfinden. Sein ursprünglich heiteres und lebendiges
Temperament fühlt unerklärliche Ketten. Kaum regt sich ein Streben
nach Selbständigkeit, so ist er auch schon der Ausgestoßene, der
eine imponierende Position erringen, sich rechtfertigen und vor der
Mutter sich wiederherstellen muß. Er vollendet 1902 seinen ersten,
ihr zugedachten größeren Gedichtband; als er aber erscheint, hat die
Mutter soeben die Augen für immer geschlossen.
Dann tastet er in seinem Romane »Gertrud« dem Rätsel seiner
Vereinsamung nach. »Sie sind gemütskrank«, läßt er den Präzeptor
Lohse zu seinem ehemaligen Schüler sagen. »Ja. Sie haben eine
Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden Tag bei
intelligenten Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich nichts
davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch
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Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Es
kommt auch vor, daß solche Kranke hochmütig werden und alle
andern Gesunden, die einander noch verstehen und lieben können,
für Herdenvieh halten. Wenn diese Krankheit allgemein würde,
müßte die Menschheit aussterben. Aber sie ist nur in Mitteleuropa
und nur in den höheren Ständen zu treffen. Bei jungen Leuten ist sie
heilbar, sie gehört sogar schon zu den unumgänglichen
Entwicklungskrankheiten der Jugend.«
Als Hesse diese Sätze schreibt, 1909 oder vielleicht noch früher, hat
er weder Jung noch Freud gelesen. Aber er kennt, von Basel her, die
romantische Philosophie und hat einen Weg in sich selbst. Schon in
»Gertrud« weiß er, daß es gilt, eine Brücke zwischen Ich und Du zu
finden; die allzu versunkene Innerlichkeit aufzuheben; den
mystischen Protestantismus, das Erbe vom Vaterhaus her, zu
durchbrechen. Sein Zustand ist ihm bewußt. Nur fragt er sich, für
wen er seine Blätter beschreibe; »wer eigentlich so viel Macht über
mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit
durchbrechen kann«. Also am Freunde und Arzte fehlt es. Und am
richtigen Weg, der dann zu gehen
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