Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
phantastische Wesen der Welt bei den Müttern
seinen Ursprung hat und seinen Beschluß. Der Ich-Kult und seine
Ergänzung, der Déraciné, Dinge, auf die in Frankreich Barrès die
Aufmerksamkeit lenkte –, im »Demian« sind sie der Leistung nach
überwunden; durch die Bindung an das Mutterbild. Ein religiöses
Urerlebnis ist gestaltet.
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Siddhartha
Musik und indische Eindrücke gehören für Hesse seit frühester
Kindheit zusammen; sie sind das Gundertsche Erbe in seinem
Vaterhaus. So reichen die Anfänge des »Siddhartha« noch tiefer
zurück als die des »Demian«. Der Freund, der diesmal Führer ist,
man findet ihn schon bei Hesses Wiegenfest zu Calw, und er hat dort
zweierlei Gestalt: es ist der Großvater Gundert, der neben seinem
Malajalam-Lexikon auch ein Malajalam-Liederbuch zusammengestellt
hat; und es ist vor allem der Vater des Dichters selbst, jener
demütige, bescheidene, unauffällige Johannes Hesse, der auch als
Schriftsteller in Verbindung mit dem Sohne alle Beachtung verdient.
Die Malajalam-Lieder des Großvaters waren keineswegs nur eine
schöngeistige oder gelehrte Publikation für die Außenwelt. Hesse
selbst wies einmal (bei Gelegenheit seiner »Lieder deutscher
Dichter«) darauf hin, daß »unsere Väter und noch mehr unsere
Großväter Verse nicht nur zu lesen verstanden, sondern sie haben
auch Gedichte in großer Zahl gesammelt, abgeschrieben, auswendig
gelernt«. Er sagt nicht, daß sie diese Gedichte auch gesungen haben
und daß dies die eigentliche Probe auf den Wert eines Liedes ist;
aber im Haus Hesse in Calw wurden die Malajalam-Lieder sogar
gesungen; die Gelehrsamkeit blieb nicht in den Folianten stecken.
Des Dichters Schwester schrieb es mir noch ausdrücklich: »Wir
waren ja in Basel auch fast nur mit Missionskindern zusammen,
sangen allerlei Malajalam-Verse und kannten all die jungen Brüder,
die im Missionshaus ausgebildet wurden.« Beim Großvater in Calw
gab es außerdem einen Schrank mit indischen Sachen, kleinen
Krischnabildern, allerlei Kostümfiguren, »auch hatten wir aus Mutters
indischer Zeit sehr schöne nordindische, zum Teil mohammedanische
Gewänder, mit denen wir uns oft verkleideten. Aber wichtiger als
dies alles war wohl der beständige Verkehr mit Indien«.
Auch die Entstehung des »Siddhartha« hat mehr als die anderen
Bücher des Dichters eine Geschichte. Beendet wurde das Werk 1922
im Tessin. Der erste Teil aber bis zu dem Einschnitt, wo Kamala
auftritt, verweist in die Nachbarschaft der »Märchen«. Noch in deren
Erscheinungsjahr 1919 wurde dieser erste Teil niedergeschrieben
und erschien in der Neuen Rundschau. Auch die weitere Entwicklung
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des Buches, bis dahin, wo Siddhartha den Tod im Wasser sucht und
plötzlich seinen Freund Gowinda neben sich findet, entstand schon
im Winter 1919. Dann trat eine Pause von fast anderthalb Jahren
ein, die sich nur so erklären läßt, daß der Siddhartha-Komplex, der
früher zu lokalisieren ist, durch das Klingsor-Erlebnis von 1919
gekreuzt wurde. Der Märchenton des ersten Teiles, die Ablösung vom
Vater und auch die Widmung an Romain Rolland bieten hinlängliche
Reminiszenzen an die erste Berner Zeit. Aber noch die Kamala-
Episode des zweiten Teiles erhält wesentliche Entscheidungen bereits
in Bern. Neu sind eindringliche religiöse Studien in den Jahren 1919
bis 1922, und neu ist im ganzen ein veränderter Charakter der
Musik. Vorher und den »Klingsor« eingeschlossen, ist Hesses Musik
mit der dunkelbunten Süßigkeit von mittelalterlichen Kirchenfenstern
zu vergleichen. Jetzt bekommt diese Musik einen Lichtstrahl von
oben, aus hoher Höhe. Jetzt füllt sie sich mit Tageshelle und
lächelndem Götterglanz.
Ich zeigte, wie in der Seminaristenzeit das Zerwürfnis mit dem Vater
sich entwickelte. Bald, mit den ersten Erfolgen des Dichters, und
wohl schon mit dem Tode der Mutter, tritt im Verhältnis zum Vater
eine Wandlung ein. Sie führt zwar noch nicht zu einem gegenseitigen
Verständnis auch in religiösen Fragen, aber doch wohl zu einem
wieder innigeren Austausch. Rührend ist es zu sehen, wie der Vater
in einem Trostbüchlein für Leidende 1909, da er schon nicht mehr in
Calw, sondern in Kornthal wohnt, eine Stelle aus seines berühmten
Sohnes »Peter Camenzind« zitiert. Es ist bezeichnenderweise ein
Passus, der die franziskanische Neigung des Camenzind zu seinem
Krüppel-Freunde betrifft und wo es heißt: »Es begann eine
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