Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
zeigt,
wie ein Gewissen entsteht, ein höchst subtiles Gewissen; wie der
Grund zu einem romantischen Dichter gelegt wird. Die Mittel sind
grausam –: wie sollten Eltern wissen, daß sie ein Genie in die Welt
gesetzt haben? Die Methoden der Gewissensbildung sind oft
entsetzenerregend,
wenn
man
die
überempfindliche
Verschwiegenheit, die Leidenskraft des Kindes, wenn man all das in
einem Durchschnitt zu sehen bekommt. Aber auch die Anlage des
Kindes, seine früh erwachten Sinne, sein Eindringen ins
Elterngeheimnis, seine unbegrenzte Neigung: auch dies vermag zu
schrecken. Noch jüngst ist Marcel Prousts Roman »Der Weg zu
Swan« bekannt geworden. Dort ist eine ähnliche Kindheit
beschrieben, ein ähnliches Umkreisen des Mutterbildes. Wie soll der
Erzieher, wenn solche Neigung ihm nicht verborgen bleibt, wie soll er
sich dazu verhalten? Es ist schwer zu sagen.
»Kinderseele« ist keine Kampfschrift gegen schlimme Väter, kein
pädagogischer Traktat. Die Erzählung hat eher eine biologische, um
nicht zu sagen eine tragische Bedeutung. Denn was die Kinderseele
schwer belastet, ein Alp der Bedrohung und Verfolgung, das wird für
den Dichter zur ängstlichen Subtilität der bedenkenden, wägenden
Kräfte und wird für ihn zu einem Vorzug, einer Überlegenheit. Dieser
väterliche Anteil, so wölfisch er sich äußern mag, schärft doch den
Sinn für das Erleben, befördert ein immer tieferes Wissen um den
verbotenen Bezirk. Es werden sehr zauberische, unausdenkbar süße,
unaussprechlich wichtige Geheimnisse sein, die wie in »Kinderseele«
so rigoros verboten, so unerbittlich mit Schlägen und Ängsten
bezahlt werden müssen. Kein Totem ist möglich, kein Heiliges, ohne
das Tabu, das Verbot und die Strafe. Wir leben in Europa ein wenig
naiv in diesen Dingen. Wir möchten die höchsten Genüsse
auskosten, ohne dafür zu bezahlen. Wir möchten die schönsten
Bilderausstellungen genießen, ohne uns vorher auspeitschen zu
lassen. Der Südseemann würde das nicht verstehen; eine
unwiderstehliche Instinktneigung läßt er sich gerne das Leben
kosten.
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»Klein und Wagner«, die zweite Erzählung des Klingsorbandes, führt
das Thema der ersten, das sie geheimnisvoll erläutert, weiter. Der
Zauber, den der Knabe in »Kinderseele« seinem Vater zu entwenden
oder hinter den er doch zu kommen sucht, ist in »Klein und Wagner«
zum Geldzauber geworden. Der kleine Feigendieb wird zum Dieb und
Defraudanten Klein, der seine Tausender auf die Spielbank bringt. Er
wird als Beamter mit gelehrten Neigungen eingeführt. Er ist flüchtig,
er fühlt sich verfolgt von unerklärlichen Mächten. Er hat Angst vor
Wahnsinn, Schlaflosigkeit, Polizei und Tod. Er fühlt sich angeklagt
von seinen Gedanken, von Richtern, von aller Welt. Er hat Sehnsucht
nach Leid, nach Untergang, und er sinkt schließlich freiwillig ins
Wasser; in den Schoß der Mutter, wie es mit einer chinesischen
Formel gegen das Ende zu heißt. Was ist geschehen? Was ist es mit
diesem Beamten Klein, der in Lugano ankommt wie ein schwerer
Verbrecher und der doch die luganesische Landschaft zu sehen
vermag, wie sie noch niemand vorher gesehen hatte, so
unvergleichlich trunken, so als Erfüllung grüner Jugendsehnsucht
nach dem Süden; so als phantastisches Kinderspielzeug, so lieb und
einfach und doch so beschwingt wie das Paradies? Was ist es mit
ihm?
Der Beamte Klein hat sein Gewissen mit einem Traumverbrechen
belastet. Er war im Begriff, einen »vierfachen Mord« an Frau und
Kindern zu begehen. Er ist dieser seiner Zwangsidee entgangen,
indem er das greifbare Geld zusammenraffte und auf falschen Paß in
den Süden reiste. In seinem Traum spielt der Name Wagner eine
große, und zwar eine doppelte Rolle: Wagner, das ist ein kleiner
Schullehrer, der einen ähnlichen Mord beging und dessen Tat der
Beamte Klein damals, ohne an Ähnliches zu denken, zugestimmt hat.
Wagner ist aber auch Richard Wagner, zu dem er als zwanzigjähriger
Jüngling eine schwärmerische Neigung hatte. Wagner, das ist auch
der Komponist, der den Lohengrin geschrieben hat, jenes
Maskenspiel von einem irrenden Ritter mit geheimnisvollem Ziel,
dessen Namen man nicht erfragen darf. Der Beamte Klein fühlt sich
dem einen und dem andern Wagner verwandt. Er selbst wäre an
einer gealterten Frau, von der er sich heiraten ließ, um ein Haar zum
Mörder geworden, aus tiefem unbewußten Zwang, weil diese Frau
seinen hochfliegenden Jünglingstraum,
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