Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
kam er damit! Als hätte er ihre Gedanken gelesen. Und woher hatte er eigentlich diese Nummer?
»Ja«, sagte sie. »Interessiert mich noch.«
»Gut«, meinte Hiroshi. »Ich bin nämlich jetzt so weit, es dir zu zeigen.«
HIROSHIS INSEL
1
N ormalerweise fiel es Charlotte nicht schwer, auf Flugreisen zu schlafen, aber auf dem Flug nach Manila bekam sie kaum ein Auge zu. Zu viel ging ihr im Kopf herum. Wie es sein würde, Hiroshi nach so langer Zeit wieder zu treffen. Erinnerungen an Harvard, an Boston.
Und natürlich Gary.
Sie hatten sich im Streit getrennt. Und sie verstand immer noch nicht, warum sie sich eigentlich gestritten hatten. Nach dem Telefonat mit Hiroshi hatte sie die Sache überschlafen, und dann, als ihr klar geworden war, dass sie seiner Einladung folgen musste, hatte sie Gary angerufen. Er hatte sich am Telefon sehr merkwürdig angehört, also hatte sie gewartet, bis er wieder zu Hause war, und es ihm noch einmal erklärt. Daraufhin war er laut geworden, hatte sich aufgeregt und ihr alle möglichen Dinge an den Kopf geworfen – aber warum? Aus Eifersucht? Sie hatte ihm versichert, dass er nichts befürchten müsse. Dass er es sei, den sie liebe. Doch irgendwie war sie damit nicht zu ihm durchgedrungen.
»Gary«, hatte sie schließlich gesagt, »ich sehe nicht ein, warum ich nicht fliegen soll. Du reist ständig ohne mich, jetzt reise ich eben mal ohne dich. Und nachdem wir in letzter Zeit immer öfter streiten aus Anlässen, die ich nicht mal ansatzweise verstehe, ist es vielleicht sowieso besser, wir nehmen uns mal eine Auszeit voneinander.«
»Eine Auszeit?« Gary hatte das Wort beinahe ausgespuckt. »Das weiß man ja, wie so was endet.«
»Wie meinst du das?« Sie hatte es wirklich nicht verstanden.Und es beunruhigte sie zu erleben, wie bei Gary neuerdings eine besitzergreifende, paranoide Seite zum Vorschein kam, die ihr nicht gefiel und von der sie nicht wusste, ob sie sich damit würde abfinden können.
Auf den Philippinen war strahlender Nachmittag, als sie landeten. Die nächste Maschine war ein Propellerflugzeug mit zwölf Sitzplätzen, alle belegt. Eine stämmige Frau transportierte eine Steige Tomaten in der Gepäckablage, ein verwitterter Mann mit schwieligen Händen, der wie ein Fischer wirkte, las den ganzen Flug über in einer amerikanischen Computerzeitschrift. Der Pazifik leuchtete in tiefem Blau, das immer heller und unwirklicher wurde, je weiter sie flogen.
Gerade als Charlotte endlich doch ein wenig eingenickt war, landeten sie auf einer Insel. Es dämmerte. Irgendwann hatte sie gewusst, wie die Insel hieß, aber im Moment fiel es ihr nicht ein. Das Flughafengebäude hatte ein lustiges Dach, das wie drei nebeneinanderstehende blaue Zelte aussah.
Am Fuß der Gangway erwartete sie ein braunhäutiger Adonis in Uniform. Sein Oberlippenbart war akkurat ausrasiert. »Miss Malroux?«, fragte er. Obwohl sie das bestätigte, ließ er sich ihren Pass zeigen. Dann führte er sie zu einem blau-silber lackierten Hubschrauber am Ende des Platzes. Gu Enterprises stand auf der Seite, darunter vermutlich dasselbe in chinesischer Schrift, und darüber prangte ein stilisierter Drachenkopf.
Die beiden Piloten redeten nicht viel. Einer gab ihr zwei merkwürdige Bällchen aus Wachs, deutete auf seine Ohren und meinte: »Es wird laut.« Ohrstöpsel also. Sie presste sich die Dinger gehorsam in die Gehörgänge, stieg ein und ließ sich auf dem Sitz, den der Pilot ihr zuwies, ordnungsgemäß festschnallen. Der andere lud unterdessen ihr Gepäck ein.
So also flog es sich mit einem Hubschrauber. Es war keine Erfahrung, die sie vermisst hätte. Die Maschine hob sich brüllend, neigte sich nach vorn, dann verschwand die Insel hinter ihnen in der anbrechenden Dämmerung. Sie schienen es eilig zu haben. Gut, dachte Charlotte. Je eher es vorbei war, desto besser.
Nach etwa einer Stunde tauchte eine andere Insel unter ihnen auf, deren Umriss sie an ein Y-Chromosom denken ließ. Charlotte beugte sich vor. Was war das? Ein Teil der Insel war von etwas bedeckt, das aussah wie gelber Schaum. Es war schon zu dunkel, um mehr zu erkennen, aber normale tropische Vegetation war das jedenfalls nicht.
Das Ende des längsten der Inselarme war hell ausgeleuchtet. Sie sah das große H des Landeplatzes, daneben führte ein Steg ins Meer hinaus, an dem zwei Schiffe lagen. Auf der anderen Seite war eine Art Zeltdorf zu sehen.
Und da stand jemand am Rand des Landefeldes. Sie wusste sofort, dass es nur Hiroshi sein
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