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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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so unwirtlich, so anstrengend, so elementar war. Hier umhüllten einen keine jahrhundertealten Konventionen. Hier lebte man nicht in jener Watte, in die die Oberschicht ihre Kinder packte. Hier war alles unverstellt, direkt, von brachialer Wirklichkeit. Die Kälte zerbrach den gesellschaftlichen Panzer, der Wind blies einem die Maske davon, und der aufs Minimalste reduzierte Alltag ließ einen erfahren, worauf es tatsächlich ankam und was nur Ballast war.
    Charlotte hatte das Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben in Kontakt mit der Wirklichkeit zu stehen. Wie grotesk! Ausgerechnet die lebensfeindliche Welt des Polarkreises brachte sie dazu, wahrhaftig zu leben!
    Sie begann auch endlich mit ihren eigenen Forschungen. Sie kramte ihr Ausgrabungsset hervor, ihre Hämmerchen und Pinsel und Schaufeln, ihr eigenes Grabungsbuch, ihre eigene kleine Digitalkamera, und machte sich auf die Suche nach Spuren menschlicher Besiedelung in der Frühzeit. Leon bat, sie begleiten und fotografieren zu dürfen, und wollte wissen, wie sie auf die Idee komme, hier dergleichen finden zu können. »Wenn’s irgendwo eine Liste der Orte gibt, die von aller Welt vergessen sind, steht diese Insel doch ganz bestimmt weit oben drauf, oder?«
    Also erzählte sie ihm, was man zum Beispiel über die Prä-Dorset-Kultur wusste. Dass die Vorfahren der heutigen Inuit oder Eskimos spätestens um dreitausend vor Christus die Beringstraße überquert haben und über Alaska bis nach Grönland vorgedrungen sein mussten – und das damals noch ohne Boote, nur über das Wintereis gehend, ohne Schlittenhunde oder stabile Behausungen. Genetische Untersuchungen eines bei Ausgrabungen gefundenen Haarbüschels, das viertausend Jahre alt war, hatten eine eindeutige Verwandtschaft dieser frühen Inuit mit Gruppen im östlichen Sibirien und auf den Aleuten erwiesen – nicht aber mit den Indianern. Die waren wesentlich früher nach Amerika eingewandert.
    »Und ab da verlieren sich die Spuren«, erklärte Charlotte, mit den Augen unverwandt den Boden absuchend, während sie nebeneinander über die schwarzbraunen Felsen stapften. »Fest steht nur, dass auch die Vorfahren dieser Vorfahren letzten Endes aus Afrika gekommen sein müssen. Und die Frage, die ich mir stelle, ist, warum um alles in der Welt es sie in diese unwirtlichen Gegenden gezogen hat? In die Kälte?«
    Leon stutzte. »Ja. Seltsam. Hab ich mich noch nie gefragt.«
    »Man schätzt, dass zum Ende der letzten Kaltzeit vor zehntausend Jahren zwischen fünf und zehn Millionen Menschen auf der Erde lebten. Das ist die Bevölkerung einer Stadt wie New York, verteilt auf die gesamte Erde. Man sollte meinen, dass die genug Platz gehabt hätten.«
    Leon wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich habe immer mal wieder bei Nomaden gelebt – in der Mongolei, in Afrika … Das ist eine Lebensform, die wesentlich mehr Land benötigt als agrarische oder industrielle Gesellschaften. Wir können das nur schwer nachvollziehen. Ein Himba-Mann, der seine Herde durch den Norden Namibias treibt, kriegt schon Platzangst, wenn er pro Woche mehr als einem anderen Hirten über den Weg läuft. Und da reden wir von Kunene, einer Region mit einer Bevölkerungsdichte, die rein rechnerisch jedem Einwohner zwei Quadratkilometer Platz lässt.«
    »Okay. Aber nun verteile zehn Millionen Menschen auf die Landmasse der Erde: Da könnte sich jeder auf fast fünfzehn Quadratkilometern ausbreiten.« Charlotte blieb stehen, betrachtete die leblose, endlose Einöde um sich her. »Ich sehe keinen Grund, dass sich da jemand in einer Gegend wie dieser niederlassen müsste.«
    »Wahrscheinlich wirst du auch keine Spuren finden, dass sich jemals jemand hier niedergelassen hat.«
    »Mag sein. Aber in Ostsibirien sieht es nicht viel anders aus, und dort hat man Überreste von Siedlungen gefunden.« Sie schüttelte den Kopf. »Es stimmt irgendwas nicht in unserem Geschichtsbild. Ich weiß nur nicht, was.«
    Er sah gut aus mit seinem wild-verwegenen, aschblonden Haar, von dem dicke Locken unter der Kapuze hervorragten, und seinem wettergegerbten Gesicht. Charlotte überlegte einen Moment, wie es mit so einem Mann sein mochte, der viel unterwegs war und so viele interessante Dinge unternahm. Bestimmt hätte man in einer solchen Beziehung allen Freiraum, den man sich wünschen konnte, und vielleicht erlebte man Dinge, die nur wenige erlebten …
    Doch, er gefiel ihr. Da ging es ihr wie Angela. Nur, dass sie es niemals so geradeheraus gesagt hätte.
    Wobei

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