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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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mitnahmen.
    »Wozu das denn?«, protestierte Charlotte.
    »Weil wir nicht wissen, was für glaziale Phänomene uns erwarten.«
    »Mein Rucksack ist schwer genug.«
    »Die Schwimmwesten sind nicht schwer. Nur sperrig.« Tatsächlich handelte es sich um klobige, brettartige Gebilde aus hartem Kunststoffschaum, konstruiert von Leuten, die mit weiblicher Anatomie nicht sonderlich gut vertraut sein konnten. Es hätte auch modernere Schwimmwesten gegeben, die sich bei Kontakt mit Wasser von selber aufbliesen und im Ruhezustand nur wie dicke Würste aussahen, aber die waren Adrian zu teuer gewesen.
    »Morley hat recht«, mischte dieser sich ein. »Wo ein Flugzeug versinken kann, können auch Menschen versinken.«
    Charlotte schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist fast ein halbes Jahrhundert her.«
    »Richtig«, sagte Adrian und schulterte seinen Rucksack. »Aber damals waren die Polargletscher in weitaus besserem Zustand als heute.«
    Als Kompromiss trugen sie, als sie schließlich losmarschierten, die Schwimmwesten um die Rucksäcke geschnürt. Anlegen würden sie sie erst, wenn sie die Hochebene erreicht hatten.
    Es ging zunächst ein gutes Stück am Fuß der Hügelkette entlang, um die südliche Spitze der Insel herum nach Osten bis zum Gletscher. Der Weg führte zwischen zerklüfteten, schneebedeckten Felsen einen steilen Pfad im Eis hinauf, der aussah, als sei hier eine Bobbahn in Planung.
    Keine zehn Minuten später war Charlotte schon am ganzen Körper nass geschwitzt.
    Man durfte keine Sekunde in seiner Konzentration nachlassen; ein falscher Schritt, und man konnte ausrutschen, stürzen und haltlos den Weg hinabschliddern, den man gerade erklommen hatte. Wie schwer man sich bei einem solchen Sturz verletzen konnte, darüber wollte Charlotte lieber erst gar nicht nachdenken. Bald gab es sowieso nichts mehr außer dem Keuchen des eigenen Atems und dem knarzenden Geräusch, mit dem sich die Steigeisen in die weiße kalte Masse krallten. Über ihnen an den hoch aufragenden Felsen zerstoben immer wieder lautlos Schneeverwehungen, wehten als glitzernder Dunst auf sie herab. Manchmal kreischte das Eis unter ihren Schritten, hallte, als liefe man über Edelstein.
    Sie passierten bläulich schimmernde, unergründliche Gletscherspalten. Formationen, die aussahen wie erstarrte Lawinen, säumten ihren Weg. Schnee, Regen, Eis und Wind hatten hier bizarre Skulpturen geschaffen, die im Sonnenlicht funkelten wie Diamanten. Es war, als erkletterten sie eine fremde Welt, in der Menschen nichts verloren hatten.
    Auf halber Höhe rasteten sie das erste Mal. »Und das ist der leichteste Aufstieg, den wir finden konnten«, erklärte Adrian keuchend. Morley, der diese anfänglichen Erkundungen mitgemacht hatte, war außerstande zu sprechen; grüngesichtig undkurzatmig saß er am Boden und schnappte nach Luft wie ein Fisch, der am Ersticken war.
    Der Einzige, der nicht keuchte, war Leon van Hoorn. Die ganze Zeit schon war er mal vorausgeeilt, um sie von oben zu fotografieren, mal zurückgeblieben, um sie von unten her aufs Bild zu bannen, und hatte immer wieder – scheinbar mühelos – aufgeholt, um sie von der Seite, aus der Nähe, auf anstrengenden Passagen oder beim Verschnaufen abzulichten.
    »Wunderbar«, wurde er nicht müde zu versichern. »Ihr macht das großartig.«
    »Sag mal«, brachte Charlotte nach ein paar Minuten heraus, »kann so einer wie du eigentlich noch einfach irgendwohin reisen? Ich meine, ohne darüber nachzudenken, wie du das, was du siehst, fotografieren und an wen du das Foto verkaufen kannst?«
    »Nein«, erwiderte Leon trocken, die Kamera schon wieder vor dem Auge, um Charlotte aufzunehmen, wie sie das sagte. »Das ist der Preis für diese Art Leben. Akzeptier es oder bleib daheim, hat mein Ausbilder damals gesagt.«
    »Na toll«, meinte Charlotte und musste auf einmal an Hiroshi denken und daran, was er ihr einmal über die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, erklärt hatte: dass die meisten Jobs das Leben der Menschen deformierten. Dass er deswegen die Menschen von dem Zwang zu arbeiten befreien wollte.
    Zum ersten Mal begann sie, ihn ein bisschen zu verstehen.
    Allerdings wollte sie gerade nicht an Hiroshi denken. Nicht hier, nicht jetzt. Hier gab es nur das Eis und den kalten Wind, der ihr Gesicht gefühllos werden ließ, die Sonne über dem Horizont, ihre schmerzenden Muskeln und ihre brennenden Lungen und den nächsten Schritt. »Los«, drängte sie. »Gehen wir weiter.«
    Nicht

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