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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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alles war starr und erfroren. Ehe sie die Hochebene erreichten, passierten sie schmale Rinnsale von Schmelzwasser, das in dünnen silbernen Fäden aus dem Gletscherabbruch plätscherte und in Rissen und Spalten des Eises verschwand.
    »Ja«, keuchte Morley. »Da tut sich was. Nicht gut. Gar nicht gut.«
    Und dann, endlich, waren sie oben, standen am Anfang einer maßlosen, unwirklich weißen Ebene aus gefrorener Stille. Das einzige Zeugnis menschlicher Existenz bildeten die Überreste des Windturms. Er ragte auf der höchsten Spitze der Bergkette zu ihrer Linken auf: ein von Fahnen aus Schnee nahezu unkenntlich gemachtes Stahlrohrgestänge, an dem einst sowjetische Windmessgeräte die Polarstürme vermessen hatten.
    Sie gönnten sich lange Schlucke heißen Tees, genossen es, dass der eisige Schmerz in den Lungen nachließ, und versuchten zu ignorieren, wie Leon sie unablässig umschlich, die Kamera vor dem Gesicht.
    »Okay«, sagte Morley schließlich und zerrte das GPS-Gerät aus seinem Anorak, das er an einer Kordel um den Hals hängen hatte. Er hatte die Zielkoordinaten schon einprogrammiert. Sie würden einfach so lange marschieren, bis das Display nur noch Nullen anzeigte. »Der Rest ist sozusagen ein Spaziergang.«
    Das war voreilig gedacht. Der Eispanzer, der die Insel bedeckte, wölbte sich zu deren Zentrum hin auf, was bedeutete, dass sie, als sie weitermarschierten, konstant leicht aufwärts gehen mussten. Das zehrte auch nicht wenig an den Reserven.
    Charlotte ließ sich zurückfallen, gesellte sich zu Angela, die mit maschinenhafter Gleichmäßigkeit dahinstapfte. »Sag mal«, fragte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Männer außer Hörweite waren, »das mit dir und Leon … ist das noch aktuell?«
    »Was soll sein mit mir und Leon?«
    »Na, in Amsterdam hast du doch gesagt, dass er dir gefällt«, meinte Charlotte und sah ihrem weiß gefrierenden Atem nach. »Und in Helsinki hast du gemeint, du müsstest ihn noch beschnuppern …«
    Angela lachte. »Bin längst fertig mit Schnuppern. Kannst ihn haben. Ich merk schon die ganze Zeit, dass du scharf auf ihn bist.«Es war kindisch. Natürlich. Kleinmädchenhaft. Unbedingt. Verrucht, geradezu. Ja.
    Aber es versüßte ihr den weiteren Weg auf unwiderstehliche Weise: sich in Fantasien zu ergehen, wie sie und Leon …
    Charlotte lächelte nun, wenn er mit der Kamera auf sie zielte. Flirtete mit dem Objektiv, diesem dunkel schimmernden Auge. Hob vielsagend die Augen, wenn er sie anvisierte. Sollte er sich ruhig fragen, was sie damit sagen wollte. Vieles eben.
    Vielleicht, sagte sie sich, fand sich ein Vorwand für eine gemeinsame Expedition über den Gletscher. Nur Leon und sie und ein Zelt. Ließen sich ihre Schlafsäcke eigentlich miteinander koppeln? Sie wusste, dass es Modelle gab, die so geschnitten waren, dass man aus zwei Schlafsäcken einen großen machen konnte, aber sie hatte noch nicht nachgeschaut, ob das mit denen ging, die sie dabeihatten.
    Diese grandiose Natur! Diese unendliche Leere! Diese erstarrte, unantastbar wirkende Landschaft, in der alle Zeit zum Stillstand zu kommen schien! Urgewalten. Das Leben in seiner elementarsten Form. Hier mit einem Mann, einem richtigen Mann, allein zu sein, zusammen zu sein, musste eine unglaubliche Erfahrung darstellen.
    Charlotte beobachtete den Fotografen. Wie geschmeidig er sich bewegte. Mit welch sicherem Schritt er optimale Perspektiven fand. Wie elegant er seine Kamera bediente. Leon lächelte zurück, schien zu verstehen, was in ihr vorging. Schien zu genießen, was sich zwischen ihnen entwickelte.
    Dass ihr Herz heftig schlug, lag nicht mehr allein an dem stetig ansteigenden Gletscher, über den sie marschierten.
    Wie die Sonne strahlte! Gut, dass sie Sonnenschutzcreme aufgetragen hatten. Und schade, dass sie nicht Leon gebeten hatte, sie einzucremen.
    Das nächste Mal, vielleicht …
    Es war kindisch. Kleinmädchenhaft. Verrucht. Aber sie genoss es.
    Vor ihr glitzerte etwas auf dem Boden, ungewöhnlich genug,um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Charlotte blieb stehen, beugte sich vor. Diesmal war es keine glatt geschliffene Eisblase, keine von Winden und Frost geformte Schneeskulptur, sondern etwas Metallisches. Etwas Banales. Eine Art verchromter Haken, ein Türgriff oder dergleichen. Wie auch immer das Ding hierhergelangt sein mochte.
    Am Ende stammte es von dem verschwundenen Jet? Sie streckte die Hand aus, wollte das Teil gerade aufheben, als Leon nach ihr rief. »Charlotte!«
    Sie

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