Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
fühlte sich außerstande, ihnen zu erzählen, was sie auf Paliuk erlebt hatte.
Das Gefühl jedenfalls, den Schleier durchbrochen zu haben, mit der Wirklichkeit verbunden zu sein, wahrhaftig zu leben – es war weg. Dies war ein Albtraum. Wer wollte schon in einem Albtraum leben? Ein Albtraum war etwas, dem es zu entkommen galt.
»So eine gottverdammte –« Adrian hielt inne, gab einen unartikulierten Schrei von sich. »Sie werden sagen, wir hätten ihn über die Klippe gestoßen! Ich seh uns schon in einem russischen Gefängnis unter Mordanklage …«
»Sogar die Kamera ist weg«, meinte Morley dumpf.
»Teufelsinsel.« Adrian fuchtelte mit den Händen. »Saradkov heißt im Volksmund die ›Teufelsinsel‹. Wusstest du das?«
»Nee.« Morley schüttelte großäugig den Kopf.
»Hat der Copilot erzählt. Er hatte auch eine blöde Theorie dazu, woher der Name angeblich kommt … Scheiß drauf. Die Leute haben recht!«
»Teufelsinsel«, wiederholte Morley. »Na klasse. Und was machen wir jetzt?«
Wie als Antwort auf seine Frage stieß keine zwanzig Meter entfernt eine weitere stählerne Klinge aus dem Eis. Und gleich darauf noch eine, noch näher.
»Rennen!«, schrie Charlotte. Was sonst sollten sie tun?
Also rannten sie wieder, rannten, so schnell sie konnten, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, während die Klingen hinter ihnen aus dem Eis schnellten wie mörderische Bärenfallen.
Aber zum Glück hinter ihnen. Wer immer sie verfolgte, er schien nicht imstande zu sein, ihnen den Weg abzuschneiden oder wenigstens mit Vorhalt auf sie zu zielen.
»Wir müssen uns trennen!«, keuchte Adrian im Rennen. »Mindestens einer muss bis zum Funkgerät kommen. Hilfe rufen.«
Keine Spur mehr von der Stille, die sie beim Heraufkommen so beeindruckt hatte. Stattdessen dröhnten ihnen die Ohren von ihrem eigenen chaotischen Keuchen, das von allen fernen Enden des Gletschers widerzuhallen schien, und dem TSCHUK! TSCHUK! TSCHUK! der emporschießenden Klingen, die sie verfolgten.
»Hilfe rufen?«, schrie Charlotte zurück. »Du träumst. Bis die da sind …« Sie beendete den Satz nicht, konnte es nicht, wollte es auch nicht. Unnötig, sich das auszumalen.
Sie sah sich um. Bildete sie sich das ein, oder gelang es ihnen, dem Monster zu entkommen? Die Stacheln schienen zurückzufallen, nicht Schritt zu halten. Und sie hatten sich verändert: Sie kamen nicht mehr knapp zwei Meter hoch aus dem Eis, sondern viel weiter, schossen drei, fünf, zehn Meter weit in die Höhe, um dann abzuknicken in dem fruchtlosen Versuch, sich die flüchtige Beute zu krallen.
Morley stolperte, schrie, fiel …
Adrian war an seiner Seite, half ihm auf. Zwei Klingen brachen hinter den beiden aus dem Eis wie metallene Ungeheuer und warfen sich in ihre Richtung – vergebens, Adrian und Morley waren außer Reichweite, entkamen leicht.
Hiroshi!, pulsierte es noch immer in Charlottes Gedanken. Die Bewegung, die sie auf den Stacheln bemerkt hatte, dieses silbrige wimmelnde Schimmern: Das hatte sie in gröberer Form auf Paliuk gesehen. Jemand musste Hiroshis Maschine nachgebaut, weiterentwickelt haben.
Aber wozu?
Charlotte rannte, stapfte durch Schneewehen, schlidderte über Eis, kämpfte sich vorwärts und hatte das Gefühl, in einemdieser Träume zu stecken, in denen man zu rennen versucht und nicht vorwärtskommt.
Hiroshi … Was hatte er darüber erzählt, wo seine Maschine abgeblieben war? Er hatte sie so programmiert, dass sie aus ihrer Transportbox ausgebrochen war und sich in den Ozean gestürzt hatte. Wo sie in ihre Einzelteile hätte zerfallen müssen.
Was, wenn sie das nicht getan hatte? Was, wenn sie irgendwie … funktionsfähig geblieben war? Wenn sie sich selber weiterentwickelt hatte? Eine Maschine, die imstande war, Kopien ihrer selbst anzufertigen – war es denn undenkbar, dass sich so eine Maschine im Lauf der Zeit veränderte, verbesserte, anpasste? Eine maschinelle, eine technische Evolution durchlief?
Aber … wie war sie dann hierhergelangt? Wieso ausgerechnet auf diese Insel?
Irgendetwas passte da noch nicht zusammen.
Angela schrie auf. Charlotte fuhr herum, schweißgebadet, am Rande des Zusammenbruchs, und sah, wie hinter der Biologin ein gewaltiger Fangarm aus dem Eis ragte, wie er ausholte und nach ihr schnappte wie der Stachel eines Skorpions.
Angela war verloren. Sie wusste es. Sie hob die Arme, als könne es sie retten, sich zu ergeben, fiel hintenüber vor Schreck, als das Ding herabkam –
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