Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
sein!
Er schaukelte, warf sich in die Ketten, vor und zurück, genoss es, höher und höher zu steigen, an den Umkehrpunkten einen Lidschlag lang schwerelos zu sein, um im nächsten Moment umso stärker auf den Sitz gedrückt zu werden … Am Gipfelpunkt endlich ließ er los, glitt vom Sitz und flog durch die Luft – das großartigste Gefühl, das man sich vorstellen konnte!
»Toll!«, rief Charlotte.
Doch als Hiroshi sich wieder vom Rasen aufrappelte, sah er, dass Charlottes Mutter quer über den Rasen auf sie zukam. Alles an ihr – ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie sie ging – verriet, dass Ärger drohte. Hiroshi blieb stehen, wo er war, und wartete ab.
Die Frau des Botschafters beachtete ihn gar nicht. Sie marschierte auf ihre Tochter zu, die schon den Kopf einzog, und redete in scharfem Ton auf sie ein. Hiroshi verstand natürlich keinWort, aber er verstand, dass Charlottes Mutter sehr verärgert war.
Als ihre Mutter aufgehört hatte zu schimpfen, erhob sich Charlotte von der Schaukel und kam mit hängenden Schultern zu ihm herüber. »Sie sagt, du musst gehen.«
»Ah«, meinte Hiroshi enttäuscht, wenngleich nicht wirklich überrascht. »Warum?«
»Weiß ich auch nicht.«
Sie begleitete ihn ein Stück, bis ein Wachmann auftauchte, der Hiroshi am Arm packte und davonführte. Wie er auf das Gelände gekommen sei?, fragte er unterwegs mehrmals, aber Hiroshi antwortete einfach nicht. Stumm ließ er sich abführen, die Lippen fest zusammengepresst, und als sie am Tor ankamen, das gerade offen stand, weil ein Lieferwagen hereinfahren wollte, und der Wachmann einen Augenblick nicht aufpasste, riss sich Hiroshi los und rannte davon.
Abends schimpfte seine Mutter mit ihm, die natürlich von dem Vorfall gehört hatte. Auch sie wollte wissen, wie er in den Garten gelangt war, er wisse genau, dass das verboten sei! Doch auch ihr verriet er es nicht.
Sie schnaubte ungehalten. »Du wirst noch schuld daran sein, wenn ich meine Arbeit verliere und wir wegziehen müssen«, hielt sie ihm vor.
Hiroshi zog den Kopf noch weiter ein. Wahrscheinlich würde er bald keinen Hals mehr haben. »Warum solltest du deine Arbeit verlieren?«
»Das sind reiche Leute, und wir sind arme Leute. Verstehst du? Das Beste ist, man geht sich aus dem Weg.«
»Warum ist das so?«
»Was?«
»Dass es reiche und arme Leute gibt?«
Mutter warf die Arme in die Höhe. »Du stellst Fragen …! Das ist eben so. Das ist schon immer so gewesen. Die Reichen sind die, die viel an sich raffen können, und die anderen sind arm.«
»Das ist ungerecht.«
»Es hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen.«
Natürlich kam Hiroshi am nächsten Tag nicht wieder.
Charlotte wusste kaum, wohin mit der Wut auf ihre Mutter. Und sie durfte nicht mal etwas sagen, weil Mutter natürlich wieder herumlag und ihre üblichen Kopfschmerzen hatte. Irgendwann ging es nicht anders, da musste Charlotte in ihr Zimmer gehen und alle, alle Sachen von den Regalen werfen, blindlings tobend, bis der ganze Boden voller Spielzeug lag.
Danach war ihr ein bisschen besser. Nach einer Weile ging sie daran, alles wieder aufzuräumen, jede Puppe und jedes Stofftier an seinen Platz zurückzusetzen, und all die kleinen Spielsteine, Würfel und Karten aufzusammeln, die aus den Kästen gefallen waren und sich über den Teppich verteilt hatten. Sie konnte es nicht haben, wenn Dinge einfach herumlagen; es brachte nämlich Unglück, wenn man Sachen nicht an ihren Platz zurückstellte.
Als sie fertig war, setzte sie sich ans Fenster, schaute hinaus und beschloss, dass sie nie wieder die feine Dame auf einem Empfang ihrer Eltern spielen würde. Das hatte Mutter jetzt davon. Warum hatte sie auch alles verderben müssen! Nein, in Zukunft würde sie sich weigern. Sie würde sich strikt weigern, sich auch nur frisieren zu lassen. Ungekämmt und ungeduscht würde sie sich in ihrem Zimmer einschließen, und egal, wie Mutter ihr schmeicheln oder drohen mochte, sie würde sich einfach nicht von der Stelle rühren. Irgendwann würden unten die Gäste ankommen und Mutter gezwungen sein, hinabzugehen …
Charlotte seufzte. Die Vorstellung, allein in ihrem Zimmer zu sitzen, während unten in den Salons all die Leute aßen und feierten, gefiel ihr auch nicht besonders, wenn sie ganz ehrlich war.
Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Vielleicht war es besser, sie dachte sich etwas anderes aus, um ihre Mutter zu bestrafen.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Es hatte
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