Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
politisch. Also mischt sich die Regierung ein. Und sagen wir es mal so – in der ecuadorianischen Regierung sitzen nicht gerade Leute, die viel von Frühgeschichte verstehen.«
Nun musste auch Charlotte lachen. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Und bei dir? Hat Harvard noch keine Abordnung geschickt, um deinen Abschluss zurückzufordern?«
»Passiert bestimmt noch.« Inzwischen hatte sie herausgefunden, was das grundsätzliche Problem war, wenn man eine Theorie vertrat, die das anerkannte Weltbild grundsätzlich infrage stellte: Die etablierten Wissenschaftler verlangten Beweise; um die zu erbringen, musste man forschen – doch dafür bekam man keine Mittel bewilligt, weil man ja eine suspekte Theorie vertrat. Akzeptierte man finanzielle Unterstützung aus anderen Quellen – wenn man lange genug suchte, fand sich immer ein Verrückter, der auch noch das abgedrehteste Vorhaben sponserte –, bekam man seine Abhandlung wiederum in keiner der anerkannten Zeitschriften veröffentlicht, weil diese einem unterstellten, man habe sich von seinen Geldgebern beeinflussen lassen. Und was nicht in den anerkannten Zeitschriften publiziert war, existierte praktisch nicht: So biss sich die Katze ständig selber in den Schwanz.
Endlich waren sie da. Ihre Kopfschmerzen hatten sich unterwegs zu einem dumpfen, regelmäßigen Pochen hinter ihren Schläfen zusammengezogen, an das man sich gewöhnte. Bestimmt würde es bald ganz nachlassen.
Neu war das seltsame Prickeln in ihrer Hüfte. Das kam bestimmt vom langen Sitzen, erst im Flugzeug, dann auf dem Beifahrersitz. Wie sollte man sich auch entspannen, wenn selbst einen Tag vor Heiligabend alle um einen herum fuhren wie die Wahnsinnigen?
Das Haus sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Garten ebenfalls, abgesehen davon, dass er schrecklich vertrocknet wirkte.
»Das ist gewöhnungsbedürftig«, meinte Brenda. »Dass Weihnachten im Hochsommer ist, meine ich.«
Charlotte blinzelte zum wolkenlosen Himmel hinauf, in die gluthelle Sonne. »Ich weiß nicht … War es damals, als wirhier wohnten, an Weihnachten auch derart heiß? Ich kann mich nicht erinnern.«
»In der Kindheit war immer alles besser«, meinte Brenda und fügte mit einem Seitenblick auf ihre Adoptivtochter hinzu: »In unserer Kindheit zumindest.«
Der Weihnachtsbaum stand in der Eingangshalle und sah mindestens so prächtig aus wie der im Weißen Haus, von dem Charlotte auf dem Herflug ein großes Foto in einer Zeitung gesehen hatte. Unter dem Baum lagen bereits die Geschenke, geheimnisvoll verpackt in glitzerndes Papier, ein Anblick, der in den beiden Kindern eine Ungeduld auslöste, die man fast mit Händen greifen konnte.
»Lass mich mal an meinen Koffer«, sagte Charlotte zu Thomas. »Ich will auch was drunterlegen, wenigstens ein paar Kleinigkeiten …«
Poch. Poch. Poch. Man gewöhnte sich daran. Vielleicht würde sie Brenda nachher um ein Aspirin bitten.
Sie ging in die Hocke, griff nach dem umlaufenden Gurt.
Und dann riss plötzlich der Film.
Dann ist da wieder Licht, Licht und ein Geruch, den sie kennt, bloß weiß sie nicht mehr, woher, ein stechender, unangenehmer Geruch nach zu viel Sauberkeit.
Und Brenda ist da, ihr vollmondrundes Gesicht unter den braunen Locken, die sie bis zum Ende ihres Lebens nie gebändigt kriegen wird. »Alles in Ordnung«, sagt sie und: »Mach dir keine Sorgen.« Dabei sieht sie aus, als sei nichts in Ordnung und als sei sie es, die sich Sorgen macht.
Aber Charlotte glaubt ihr, weil sie ihre beste Freundin ist und sie noch nie belogen hat, sagt »Gut« und schläft wieder ein.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war sie allein und klar genug im Kopf, um zu begreifen, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Ach ja, Kopf , das war so ein Stichwort … Sie hatte keine Haare mehr. Wenn sie sich an den Kopf fasste, fühlte sie eine Glatze und hier und da ein paar Stellen, an denen neueHaarspitzen zum Vorschein kamen. Und am Hinterkopf klebte ein gigantischer Verband.
»Was ist mit mir passiert?«, fragte sie die erste Krankenschwester, die das Zimmer betrat.
Die hob abwehrend die Hände. »Lo siento, no hablo inglés.«
»Yo quería saber lo que me pasó« , wiederholte Charlotte ihr Anliegen auf Spanisch.
Die schmale dunkelhäutige Frau lächelte traurig. »Lo siento. Vos tened que preguntar al médico.«
Der Arzt kam wenig später, setzte sich an ihr Bett und fragte, wie es ihr ginge. Er trug eine altmodische Brille. Das Gesicht dahinter war von
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