Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
dachte, das Messer wird nicht älter sein, aber eben interessanter, weil ein Messer – damit ist vielleicht mal gekämpft oder jemand getötet worden …« Sie zögerte. Konnte sie ihm das anvertrauen? Sie warf ihm einen raschen Blick zu. Sie hatte das noch nie jemandem erzählt, in ihrem ganzen Leben nicht, doch bei Hiroshi hatte sie das Gefühl, dass sie es ihm sagen konnte. Dass er es verstehen würde. »Als Kind war ich besonders fasziniert von Gegenständen, mit denen jemand getötet worden ist. Hellebarden, Schwerter, Dolche – solche Dinge haben mich angezogen. Nicht, um mich am Tod anderer Menschen zu ergötzen, sondern weil ich gedacht habe, diese Objekte könnten ein Tor in die andere Welt öffnen, ins Jenseits, wenigstens einen Spaltbreit. Ich glaube, ich hatte das Gefühl, dass ich auf diesem Weg etwas darüber herausfinden könnte, was aus uns wird, wenn wir sterben.«
Hiroshi nickte nur ernst. »Das ist ein interessanter Gedanke. An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht.« Er sah sie an, mit seinen dunklen, asiatischen Augen. »Und? Ist mit dem Messer jemand getötet worden?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht. Wenn ich bis dahin sehr alte Gegenstände angefasst habe, war das ein Gefühl, als würde ich von einem Bordstein gestoßen, um ein paar Zentimeter zu fallen und dann aufzukommen. Aber als ich dieses Messer berührthabe … das war, als würde ich über eine Klippe stürzen, in einen Abgrund ohne Boden.«
»Deswegen hast du geschrien.«
»Ja.«
Er nickte, ließ sich das durch den Kopf gehen. »Heißt das, du weißt gar nicht, wie alt es war?«
Charlotte suchte nach Worten. »Ich hab mich irgendwann … ausgeklinkt. Ich wollte nicht noch weiter in die Vergangenheit fallen. Aber da war ich schon bei hunderttausend Jahren und mehr …« Die Erinnerung an den Tag im Schrein war auf einmal wieder vollkommen lebendig. Das Entsetzen war wieder da und auch die Faszination, die sie seither antrieb. »Ein Messer aus Obsidian, denk nur! Und derart kunstvoll bearbeitet! Wenn sich beweisen ließe, dass vor so langer Zeit bereits Menschen gelebt haben, die so etwas konnten – das wäre eine Sensation, die unser ganzes Geschichtsverständnis auf den Kopf stellen würde.«
»Hast du mal daran gedacht, das Messer wissenschaftlich untersuchen zu lassen?«
»Ja. Ich habe einen Professor für Kunstgeschichte gefragt, wie man da vorgehen müsste. Er hat einen Bekannten in Japan angerufen, der den Tempel kontaktiert hat … Aber das Messer ist nicht mehr da. Es sei an einen englischen Sammler verkauft worden, dessen Anschrift man verloren habe, hat man im Tempel behauptet. Der japanische Gelehrte meinte, sie wollten nur nicht zugeben, dass es jemand gestohlen hat.«
»Schade.« Hiroshi grübelte. Etwas im Takt seiner Schritte veränderte sich, wenn er intensiv nachdachte. »Ich habe oft von damals geträumt«, erklärte er schließlich, und es klang, als falle es ihm schwer, das zu bekennen. »Von dem Moment, in dem du schreist. Manchmal schreist du, weil du mir aus der Hand gleitest. Manchmal fällst du. Manchmal ziehe ich dich in letzter Sekunde aus dem Maul eines Monsters, das aus dem See aufsteigt und dich verschlingen will.« Er zögerte. »Ich erinnere mich an diesen Augenblick wie an einen Stromschlag. Er hat mir etwas ins Herz gebrannt.«
»Ja«, sagte Charlotte unbedacht. »Mir auch.«
Er sah sie an. Sein Gesicht wirkte so offen, so verletzlich wie noch nie zuvor. »Ich glaube, dass seither eine Verbindung zwischen uns besteht«, sagte er. »Ich wusste es die ganzen Jahre nicht, aber ich habe es in dem Moment gespürt, in dem ich dich wiedergesehen habe. Es war kein Zufall, dass wir uns wiedergetroffen haben.«
Charlotte spürte, wie sie sich verschloss, verschließen musste. Sie atmete mühsam ein, sagte aber nichts.
Hiroshi musterte sie forschend. »Geht es dir nicht auch so? Hast du nicht auch das Gefühl, dass uns etwas ganz Außergewöhnliches verbindet?«
Da war er, der Moment, vor dem sie sich gefürchtet hatte. »Hiroshi«, sagte sie mit aller Behutsamkeit, zu der sie fähig war, »ich bin im Begriff, mich zu verloben. Du solltest dir keine solchen Hoffnungen machen.«
Er erwiderte nichts. Mit einem Schlag war sein Gesicht wieder von japanischer Undurchdringlichkeit. Nach etwa zehn Schritten meinte er: »Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Charlotte seufzte. »Was uns verbindet«, erklärte sie, »ist eine Kinderfreundschaft. Das ist etwas Besonderes, ja. Solche
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