Herr Bofrost, der Apotheker und ich
der Apotheke, in der Papa Spenger in seinen Semesterferien immer jobbte, dort hatten sie sich kennen gelernt –, »und ich war wirklich völlig erschöpft. Ich hatte zu nichts mehr Energie, bin nicht mehr zum Friseur gegangen, und mich hübsch anzuziehen, fand ich, lohnte sich gar nicht, weil mir immer ein Kind auf die Schulter sabberte. Es war mir auch egal. Ulrich hatte gerade die Apotheke übernommen und war sowieso kaum zu Hause. Und wenn er da war, hatten wir Krach. Es passte ihm natürlich nicht, wie ich herumlief, er fand, dass ich zu nachsichtig mit den Kindern sei, und wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand, gab's ein Mordstheater ...« Mama Spenger starrte gedankenverloren auf ihr Weinglas, das sie mit beiden Händen auf dem Tischtuch drehte. Ihre Mundwinkel hingen herab, sie sah traurig aus. Und plötzlich auch wirklich alt.
Ich schwieg. Was wollte sie? Mir eine Lektion erteilen, mir klar machen, wie gut es mir doch gehe – vergleichsweise?
»Und weißt du, Lena, das Schlimmste war, dass mir so langweilig war. Die Kinder hielten mich zwar den ganzen Tag auf Trab, aber unterhalten konnte ich mich mit ihnen natürlich nicht. Und wenn Ulrich abends nach Hause kam, war ich viel zu müde, um mich noch für seine Probleme zu interessieren. Und er erzählte sowieso nichts. Wir haben zusammen die Nachrichten gesehen und irgendeinen Spielfilm, aber da war ich meistens schon eingeschlafen. Zum Lesen kam ich überhaupt nicht mehr, und dass es so etwas wie Kinos und Theater gab, hatte ich zwar nicht vergessen, aber es lag völlig außerhalb meiner Reichweite.«
Ich nickte. Dieses Szenario kam mir irgendwie bekannt vor. Ich hatte mir oft genug ausgemalt, wie es sein würde, die Mutter von Holgers Kindern zu sein. Allein erziehend und verflucht allein. »Und?«, fragte ich, weil Mama Spenger, überwältigt von ihren deprimierenden Erinnerungen, verstummt war und nur noch schweigend ihre restlichen Erdbeeren in der Sahne herumrührte. Sie blickte leer auf den rosaroten Brei vor sich.
Doch schließlich sah sie auf und lächelte. »Und dann ist meine Mutter eingeschritten. Sie war eine sehr resolute Frau, und sie sah natürlich, was los war. Sie hat mich zu einem Arzt geschleppt, der mir eine Kur verschrieben hat – so was war damals ja überhaupt kein Problem. Ich fuhr für vier Wochen nach Norderney. Meine Mutter hat sich so lange um die Kinder und meinen Haushalt gekümmert.«
»Und dein Vater? Hat der das mitgemacht?«
»Nein, nicht so recht. Er mochte Ulrich nicht besonders, darum hielt er sich von unserem Haus meistens fern. Tatsächlich hat meine Mutter in diesen vier Wochen wohl zwei Haushalte versorgt, aber ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich erst viel später begriffen habe, was sie da für mich getan hat.«
»Und hat die Kur dir geholfen?«, fragte ich.
»Ja und nein. An die erste Woche kann ich mich kaum erinnern, ich glaube, ich habe fast nur geschlafen. Wenn ich wach war, bin ich zur Massage oder zum Schwimmen gegangen oder habe einfach nur faul in der Sonne gelegen. Und eines Tages habe ich mich aufgerafft, zum Friseur zu gehen. Daran erinnere ich mich allerdings ganz genau, ich fühlte mich hinterher wie neu geboren. Jung und hübsch, und zum ersten Mal seit Monaten hatte ich Lust, etwas zu unternehmen. Ich kaufte mir ein neues Kleid und ging abends in ein Klavierkonzert. Es wurden leichte, heitere Stücke gespielt, vor allem Mozart. Ich saß einfach da, ließ die Musik über mich perlen und spürte, wie sich dieser schwarze Nebel um mich herum hob. Und als mein Sitznachbar mich hinterher zu einem Glas Wein einlud, fand ich es die natürlichste Sache der Welt, ja zu sagen.« Mama Spenger lächelte versonnen. Sie lehnte jetzt sehr entspannt in ihrem Stuhl.
»Magst du einen Cappuccino?«, fragte ich. Mir war immer noch nicht klar, warum sie mir diese Geschichte erzählte, aber ich fand sie ziemlich interessant. Vermutlich kam die Moral ganz am Ende, das war ja meistens so.
Mama Spenger schwieg, bis ich die Bestellung aufgegeben hatte. Der Kellner warf ihr einen verdutzten Blick zu, als er ihren Nachtischteller abtrug. Dass gepflegte Damen wie sie so eine rosarote Pampe auf dem Teller zurückließen, erlebte er sicherlich nicht alle Tage.
Mama Spenger bemerkte seine Verwunderung nicht. Sie war weit weg. Auf Norderney, achtunddreißig Jahre früher. Erst als der Kellner wieder verschwunden war, fuhr sie fort: »Er war Medizinstudent und vier Jahre jünger als ich. Er
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