Herr Bofrost, der Apotheker und ich
Leben zu retten!
Ich blies die Kerzen auf dem Esstisch aus, raffte eine Reisetasche und den Koffer aus dem Verschlag und flitzte nach oben. Diesmal ging es schnell. Ich hatte bereits alles zurechtgelegt, die Bilder, die Aktenordner, mein Laptop, den »Mephisto«. Die Stifte konnte ich nach Holgers Tobsuchtsanfall vergessen. Dafür nahm ich das »Anna-Blume-Plakat« von der Wand und steckte es zu den »Stürzenden Engeln« in die Papprolle. Ich stellte Tasche und Koffer in den Flur und ging ins Wohnzimmer, um kurz nach Holger zu sehen.
Der schlief den Schlaf des Ausgeknockten. Ich fühlte kurz seinen Puls. Er war ziemlich kräftig, fand ich und ließ beruhigt seinen Arm wieder auf das Sofa plumpsen. Ich kramte eine zweite Reisetasche heraus, stopfte meine Wäsche und Pullover hinein, fegte den Rest meiner Klamotten samt Bügeln von der Kleiderstange, warf sie in den Flur. Handtasche! Autoschlüssel! Zuerst den Koffer. Dann die Taschen. Die losen Kleidungsstücke packte ich obendrauf, schmiss die Kofferraumklappe zu.
Holgers Autoschlüssel? O Gott, Holgers Autoschlüssel! Keine Panik, er hing ordentlich am Schlüsselbrett! Ich setzte seinen Wagen zurück, den er wieder vorsorglich hinter meinem abgestellt hatte, parkte ihn am Straßenrand. Den Schlüssel schleuderte ich in die Haselnusssträucher im Vorgarten (kleiner Abschiedsgruß, ha ha!). Ein letztes Mal hastete ich ins Wohnzimmer, um den Puls zu fühlen. Dem ging es gut, bloß keine Sentimentalität! Bloß weg hier!
* * *
Als ich nördlich von Hannover endlich auf die Autobahn fuhr, atmete ich auf. Ich trat das Gaspedal durch und rollte eine gute Stunde später Katharinas und Ninas Einfahrt hinauf. Ich war noch nicht ausgestiegen, als die Haustür aufgerissen wurde. Katharina war von warmem, gelbem Licht umgeben, sie breitete die Arme aus. »Lenchen! Endlich!«
Ich riss den Gurt von meiner Schulter und stolperte in ihre Umarmung, in der ich endlich sicher war. Plötzlich zitterte ich am ganzen Leib.
»Lenchen, Schätzchen, nun komm erst mal rein.« Katharina löste sanft meine Arme, die ihren Hals umklammerten, und zog mich ins Haus. Wie eine Patientin, die nach einer schweren Operation wieder gehen lernt, führte sie mich ins Wohnzimmer, ich ließ mich auf das Sofa sinken, und Nina reichte mir lächelnd ein Glas Rotwein. »Komm, trink das erst mal.«
Ich nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch. »Ich muss Pipi«, sagte ich kläglich. »Und mein Auto, es muss da weg! Ich muss es in die Garage fahren.«
Katharina und Nina sahen sich an. »Das mache ich«, sagte Nina. »Geh du ins Bad und mach dich ein wenig frisch. Und dann erzählst du uns alles.«
»Aber du musst das Garagentor zumachen! Und abschließen!«
Katharina griff nach meiner Hand. »Nina macht das schon. Komm, meine Kleine, du bist in Sicherheit.«
In Sicherheit. Am liebsten hätte ich mich in der Sofaecke zusammengerollt und geheult. In Sicherheit. Mann, ja!
Und plötzlich konnte ich doch lächeln. »Ich fürchte, der Schlüssel steckt sogar noch«, sagte ich zu Nina.
»Umso besser«, meinte sie, grinste zurück.
Zehn Minuten später saßen wir zusammen. Ich auf dem Sofa, Katharina und Nina in den Sesseln. Alle barfuß, die Füße hochgezogen. Die Weingläser in der Hand. Der Raum dämmerig, nur zwei Stehlampen verbreiteten weiches Licht. Katharina hatte die Vorhänge zugezogen, was sie sonst niemals tat, doch sie spürte wohl, dass ich genau das brauchte. Eine Höhle, abgeschirmt gegen die feindliche Welt.
»Und nun erzähl«, sagte Nina.
Und ich erzählte. Von den Grübeleien in dieser schrecklichen Hamburger Nacht, von Claudine und Hélène und von der Valium-Sauce. Katharina schüttelte fassungslos den Kopf, Nina liefen die Lachtränen über die Wangen. »Lena, das hast du toll gemacht! Stellt euch nur vor, wenn der morgen aufwacht ...!« Sie kriegte sich kaum wieder ein.
»Wenn der morgen aufwacht, klingelt hier das Telefon«, meinte Katharina düster.
»Na und?« Nina war ausgesprochen heiter. »Wir sind nicht da!«
»Und wenn er kommt?«
»Bevor der wieder fahrtüchtig ist, ist das obligatorische Trennungsjahr rum«, sagte Nina. »Und jetzt rufen wir erst mal Laura an. Sie ist ganz krank vor Sorge.«
Sie genas innerhalb von Sekunden. »Wenn ihr nicht zu müde seid, komme ich zu euch! In einer Stunde könnte ich da sein!«
Sie brauchte eine Stunde und fünf Minuten. Dann saßen wir zu einem Mitternachtsimbiss am Küchentisch. Es gab aufgebackenes
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