Herr der Daemmerung
Sperrigkeit gut saß. Sie setzte einen dunklen Integralhelm auf und schwang ein Bein über das Motorrad. Einen Moment später donnerte sie davon, weg von Clayton in Richtung San Francisco.
Sie genoss die Fahrt, obwohl sie wusste, dass es vielleicht ihre letzte sein würde. Vielleicht gerade deswegen. Es war ein herrlicher Spätsommertag mit einem septemberblauen Himmel und einer reinweißen Sonne. Die Luft, die sich für Jez teilte, war warm.
Wie können die Leute sich bloß in diesen Käfigen fortbewegen?, dachte sie und gab Gas, um einen Kombi zu überholen. Welchen Nutzen hatten Autos? Man war so absolut isoliert von seiner Umgebung. Man konnte nichts von draußen hören oder riechen; man konnte weder Wind noch Macht spüren, noch eine geringfügige Veränderung in der Temperatur. Man konnte sich nicht von einer Sekunde auf die andere in einen Kampf stürzen. Und man konnte gewiss niemanden bei hoher Geschwindigkeit pfählen, während man sich aus einem Autofenster lehnte.
Das alles konnte man jedoch auf einem Motorrad. Wenn man schnell genug war, konnte man jemanden aufspießen, während man vorbeidonnerte, wie ein Ritter mit einer Lanze. Sie und Morgead hatten einmal so gekämpft.
Und vielleicht werden wir es wieder tun, dachte sie und schenkte dem Wind ein strahlendes Lächeln.
Der Himmel blieb blau, während sie weiter nach Westen fuhr und sich dem Ozean näherte. Die Sicht war so klar, dass sie von Oakland aus die gesamte Bucht und die Silhouette von San Francisco sehen konnte. Die hohen Gebäude schienen zum Greifen nah zu sein.
Sie verließ ihre eigene Welt und trat in die Morgeads ein.
Was nicht oft geschah. Zwischen Clayton und San Francisco lag zwar nur eine Fahrt von einer Stunde und fünfzehn Minuten - vorausgesetzt, es herrschte kein Verkehr. Aber die Stadt hätte gerade so gut in einem anderen Staat liegen können. Clayton war ein winziges Landstädtchen, das größtenteils von Kühen bevölkert wurde und ansonsten die Heimat einiger anständiger Häuser und einer einzigen Kürbisfarm war. Soweit Jez wusste, hatte die Nachtwelt keine Ahnung von der Existenz der Stadt. Es war nicht die Art von Ort, für die sich Nachtleute interessierten.
Was auch der Grund dafür war, warum sie es geschafft hatte, sich dort so lange zu verstecken.
Aber jetzt fuhr sie direkt ins Herz des Feuers. Als sie die Bay Bridge überquerte und die Stadt erreichte, war sie sich mit allen Sinnen ihrer Verletzbarkeit bewusst. Vor einem Jahr hatte Jez die Gesetze der Gang gebrochen, indem sie einfach verschwunden war. Wenn irgendein Gangmitglied sie sah, hatte der Betreffende das Recht, sie zu töten.
Idiotin. Niemand wird dich erkennen. Das ist der Grund, warum du den Integralhelm trägst. Das ist der Grund, warum du dein Haar jetzt anders trägst. Das ist der Grund, warum du dein Bike nicht nach deinem Geschmack lackiert hast.
Sie war hellwach, während sie durch die Straßen fuhr, auf dem Weg zu einem der widerwärtigsten Viertel der Stadt.
Dort. Beim Anblick eines vertrauten Gebäudes durchfuhr sie ein Ruck. Braun, massiv und alles andere als schön, drei Stockwerke und ein unregelmäßig gebautes Dachgeschoss. Jez spähte zu dem Dach hinauf, ohne ihren Helm abzunehmen.
Dann stellte sie ihr Motorrad ab, ging weiter zum Eingang des Gebäudes und lehnte sich dort lässig an die raue Betonwand, gleich neben den Klingeln der angerosteten Gegensprechanlage. Sie wartete, bis ein paar wie Künstlerinnen gekleidete Mädchen irgendwo im Haus klingelten und von einem der Mieter eingelassen wurden. Dann löste sie sich von der Mauer und folgte ihnen.
Morgead durfte nicht wissen, dass sie kam.
Er würde sie töten, ohne abzuwarten und Fragen zu stellen, wenn er sie zuerst erwischte. Ihre einzige Chance bestand darin, dass sie ihn zuerst erwischte und zum Zuhören zwang.
Das Gebäude war von innen noch hässlicher als von außen, mit einem leeren, widerhallenden Treppenhaus und gesichtslosen, industriegroßen Fluren. Aber Jez’ Herz schlug schneller, und so etwas wie Sehnsucht schnürte ihr die Brust zusammen. Dieses Gebäude mochte abscheulich sein, aber es bedeutete auch Freiheit. Jeder einzelne der riesigen Räume hinter den Metalltüren war an jemanden vermietet, der sich nicht für Teppiche und Fenster interessierte, sondern einen großen, leeren Raum wollte, in dem er allein sein und genau das tun konnte, was er wollte.
Größtenteils lebten hungrige Maler hier, Leute, die große Studios brauchten. Einige der Türen
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