Herr der Diebe
drehte sie sich um und lief Riccio nach.
Das Abendessen fiel aus. Keiner von ihnen hatte Hunger. Nur Bo verschlang zwei Schüsseln voll pappiger Cornflakes, während seine Kätzchen um ihn herumschnurrten und hastig vom Boden schleckten, was er verschüttete. Mosca tauchte überhaupt nicht auf. Er hatte sich eine Angel geschnappt und sein Radio und war nach draußen an den Kanal gegangen, wo sein Boot lag, das immer noch dringend einen Anstrich brauchte. Riccio hatte sich so tief in seinen Schlafsack vergraben, dass nicht einmal mehr die Haare herausschauten, und Prosper versuchte alle quälenden Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, indem er den Taubendreck von den Sitzen und vom Boden schrubbte. Die Taube des Conte beobachtete ihn dabei. Mit schief gelegtem Kopf hockte sie in dem Korb, den sie ihr aufgehängt hatten, und blickte zu ihm herunter. Wespe lag auf ihrer Matratze und las einen von den Krimis aus Victors Regal, aber irgendwann merkte sie, dass sie dieselbe Seite schon dreimal gelesen hatte, klappte das Buch zu und half Prosper wortlos beim Saubermachen. Als Bo müde wurde, las Wespe ihm eine Gutenachtgeschichte vor und schlief anschließend mit ihm im Arm ein. Riccio schnarchte schon zwischen seinen Stofftieren, aber Mosca war noch nicht wieder aufgetaucht, als Prosper unter seine Decke kroch. Eine Weile lag er wach da und dachte nach, über Ehrenworte und Lügen, über Väter und Tanten, über Freundschaft und ein Zuhause und blinde Passagiere. Er drehte sich auf die Seite und betrachtete Wespe und Bo, wie sie aneinander geschmiegt schliefen, und Riccio, der in seinem Schlafsack vor sich hinmurmelte, und er fühlte sich geborgen, trotz allem, was an diesem scheußlichen Tag passiert war. Aber als er den anderen den Rücken zuwandte, da griff die Dunkelheit nach ihm; sie drückte ihm die schwarzen Finger auf die Augen, bis er sich so furchtbar verloren fühlte, dass er sich das Kissen über den Kopf zog. Als er endlich einschlief, träumte Prosper, er wäre mit Bo wieder in dem Zug, mit dem sie nach Venedig gekommen waren. Sie wollten sich einen Platz suchen, aber jedes Mal, wenn Prosper eine Abteiltür aufschob, saß Esther dahinter. Er rannte mit Bo den engen Zuggang hinunter, öffnete immer neue Türen, und hinter jeder wartete Esther und griff nach Bo. Prosper hörte sein Herz schlagen und Bo hinter sich rufen, aber er konnte nicht verstehen, was er rief. Bo schien sich immer weiter zu entfernen, obwohl Prosper seine Hand hielt. Dann versperrte plötzlich Victor ihnen den Gang. Und als Prosper sich umdrehte und verzweifelt die nächste Tür aufzerrte, um ihm zu entkommen, da war dahinter nichts als Dunkelheit, eiskalte, pechschwarze, bodenlose Dunkelheit, und bevor er zurückweichen konnte, stürzte er schon hinein. Und Bo war nicht mehr bei ihm.
Nass geschwitzt fuhr Prosper hoch. Um ihn herum war es dunkel. Dunkel und kalt. Aber nicht so kalt wie in seinem Traum. Prosper tastete nach der Taschenlampe, die er immer neben seinem Kissen liegen hatte, und knipste sie an. Wespes Matratze war leer. Sie war nicht mehr da und Bo auch nicht. Erschrocken sprang Prosper auf, lief zu Riccios Matratze und zerrte den Schlafsack auf. Nichts als schmutzige Stofftiere. Und unter Moscas Decke lag nur sein Radio.
Sie waren fort. Alle fort. Mit Bo.
Prosper wusste sofort, wo sie waren. Trotzdem stolperte er durch die Dunkelheit zu dem Schrank, in dem Mosca alles gesammelt hatte, was sie für den Einbruch besorgt hatten: ein Seil, die Grundrisse, Wurst für die Hunde, Schuhcreme, um sich die Gesichter zu schwärzen – es war alles verschwunden.
Wieso haben sie Bo mitgenommen?, dachte Prosper verzweifelt, während er sich anzog. Wie konnte Wespe das zulassen?
Der Mond stand hoch über der Stadt, als Prosper aus dem Kino stolperte. Menschenleer lagen die Gassen da und über den Kanälen hing in grauweißen Schwaden der Nebel.
Prosper rannte. Seine Schritte hallten so laut auf dem Pflaster, dass er selbst erschrak. Er musste die anderen einholen, bevor sie über die Mauer kletterten, bevor sie sich in das fremde Haus schlichen. Bilder drängten sich in seinen Kopf, Bilder von Polizisten, die einen strampelnden Bo davontrugen, die Wespe und Mosca mitnahmen und Riccio ins Igelhaar griffen.
Die Accademia-Brücke war glitschig vom Nebel, und hoch über dem Canal Grande rutschte Prosper aus und schlug sich das Knie auf. Aber er rappelte sich wieder auf und rannte weiter, über leere Plätze, vorbei an schwarz in den Himmel
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