Herr der Diebe
eines Lächelns. Ohne ein weiteres Wort öffnete sie das schwere Gitter. Prosper zögerte einen Atemzug, doch Bo huschte wie ein Wiesel über die Schwelle. Bevor Prosper ihm folgte, erhaschte er noch einen besorgten Blick von Wespe. Das Mädchen führte die beiden Jungen durch eine dunkle, säulengeschmückte Eingangshalle in den Innenhof des Hauses. Bo steuerte sofort auf die Freitreppe zu, die in den ersten Stock hinaufführte, aber das Mädchen hielt ihn sanft, aber entschieden zurück. »Ihr wartet hier unten«, sagte sie und zeigte auf eine steinerne Bank am Fuß der Treppe. Dann stieg sie, ohne ihnen noch einen Blick zuzuwerfen, die steilen Stufen hinauf und verschwand oben hinter der Brüstung.
»Vielleicht ist es ein ganz anderer Scipio!«, flüsterte Bo Prosper zu. »Oder er hat sich hier eingeschlichen, um das Haus später in Ruhe auszurauben.«
»Vielleicht«, murmelte Prosper und sah sich unbehaglich um, während Bo zu dem Brunnen in der Mitte des Hofes lief. Zehn Minuten können sehr lang sein, wenn man mit klopfendem Herzen dasitzt und wartet – auf etwas, das man nicht versteht, auf etwas, das man eigentlich nicht wissen will. Bo schien das Ganze nicht sonderlich zu bedrücken, er war glücklich damit, die Löwenköpfe am Brunnen zu betasten und die Hände in das kalte Wasser zu stecken. Aber Prosper fühlte sich furchtbar. Belogen, verraten. Was tat Scipio in diesem Haus? Wer war er? Als Scipio endlich oben hinter der Treppenbrüstung erschien, starrte Prosper zu ihm hoch wie zu einem Geist. Und Scipio starrte zurück, das Gesicht blass und fremd. Dann kam er mit bleischweren Schritten die Treppe herunter. Bo lief ihm entgegen. »Na, Scip?«, sagte er und blieb am Fuß der Treppe stehen. Aber Scipio antwortete nicht. Auf der letzten Stufe zögerte er und sah Prosper an. Schweigend erwiderte Prosper seinen Blick, bis Scipio den Kopf senkte. Als er ihn wieder hob, um etwas zu sagen, erschien ein Mann oben an der Treppe, groß und hager, mit den gleichen dunklen Augen, wie Scipio sie hatte. »Was machst du noch hier?«, rief er mit gelangweilter Stimme.
»Hast du heute nicht Nachhilfeunterricht?« Er streifte Bo und Prosper mit einem kurzen, irritierten Blick. »Erst in einer Stunde«, antwortete Scipio, ohne zu seinem Vater hochzusehen. Seine Stimme klang anders als sonst, als wäre er nicht sicher, ob er die richtigen Worte finden würde. Kleiner kam er Prosper auch vor, aber vielleicht lag das an dem riesigen Haus oder daran, dass er seine hochhackigen Stiefel nicht trug. Er war gekleidet wie eins der reichen Kinder, die man manchmal durch die Fenster der vornehmen Restaurants sah, wie sie dasaßen, stocksteif, und mit Messer und Gabel aßen, ohne sich zu bekleckern. Bo erfüllte das immer mit großer Bewunderung. »Was steht ihr da herum?« Scipios Vater winkte ungeduldig mit der Hand, als wären die drei Jungen lästige Vögel, die ihm das Pflaster verschmutzten. »Geh mit deinen Freunden auf dein Zimmer. Du weißt genau, dass der Hof kein Kinderspielplatz ist.«
»Sie… gehen gleich wieder«, antwortete Scipio mit belegter Stimme. »Sie wollten mir bloß… was bringen.« Aber sein Vater hatte sich schon umgedreht. Schweigend beobachteten die Jungen, wie er wieder hinter einer Tür verschwand. »Du hast einen Vater, Scip?«, flüsterte Bo ungläubig. »Hast du auch eine Mutter?«
Scipio schien nicht zu wissen, wo er hingucken sollte. Unruhig fingerte er an seiner feinen seidenen Weste herum. Dann nickte er. »Ja, aber sie ist viel unterwegs.« Er sah Prosper ins Gesicht – und schaute wieder weg. »Guck mich nicht so an. Ich kann das alles erklären. Ich hätte es euch sowieso bald gesagt.« »Du kannst es uns jetzt gleich allen erklären«, antwortete Prosper und griff nach Scipios Arm. »Komm, die anderen warten draußen. Und sie frieren bestimmt schon.« Er wollte den Herrn der Diebe mit zur Tür ziehen, aber Scipio machte sich los und blieb am Fuß der Treppe stehen.
»Der verdammte Schnüffler hat mich verraten, stimmt’s?«
»Wenn du uns nicht belogen hättest, hätte er nichts zu verraten gehabt«, antwortete Prosper. »Los, komm.« »Ich hab gleich Unterricht, du hast es doch gehört!« Scipios Stimme klang trotzig. »Ich erkläre euch später alles. Heute Abend. Heute Abend kann ich mich freimachen. Mein Vater fährt weg. Und das mit dem Einbruch…«, er senkte die Stimme, »… das bleibt wie abgesprochen. Schon morgen Nacht können wir es tun. Habt ihr das Haus beobachtet, wie ich
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