Herr der Diebe
sie. »Sie sind sehr alt, noch aus der Zeit, als man sich seine Briefe per Taubenpost schickte. In Venedig war das sehr beliebt. Wenn die reichen Venezianer im Sommer aufs Land zogen, schickten sie so Nachrichten in die Stadt. Ich spielte meistens, dass mich jemand dort oben eingesperrt hätte und dass ich meine Tauben fliegen ließ, um Hilfe zu holen. Und dabei fand ich irgendwann in all dem alten Taubendreck den Flügel. Eine der alten Schwestern wusste noch, wo er angeblich hingehört hatte, und sie erzählte mir von dem Karussell. Als sie merkte, wie sehr die Geschichte mir gefiel, schenkte sie mir den Flügel.«
»Sie haben in dem Waisenhaus gespielt?« Scipio sah sie argwöhnisch an. »Wie sind Sie da hingekommen?« Ida strich sich das Haar zurück. »Ich lebte in diesem Waisenhaus«, antwortete sie. »Mehr als zehn Jahre war ich dort. Es waren nicht gerade meine glücklichsten Jahre, aber einige Schwestern besuche ich noch ab und zu.«
Wespe betrachtete Ida einen Moment lang, als sähe sie ihr Gesicht zum ersten Mal. Dann griff sie in ihre Jacke und zog das Foto heraus, das der Conte ihnen überlassen hatte. Sie schob Ida das Bild hin. »Das da hinter dem Flügel, finden Sie nicht auch, dass das wie der Kopf von einem Einhorn aussieht?«
Ida Spavento beugte sich über das Foto. »Woher habt ihr das Foto?«, fragte sie. »Von eurem Auftraggeber?« Wespe nickte.
Scipio trat vor das Küchenfenster. Draußen war es immer noch dunkel. »Man wird erwachsen, wenn man auf diesem Karussell fährt?«, fragte er.
»Nach ein paar Runden. Eine seltsame Geschichte, oder?« Ida stellte ihre Tasse in den Abguss. »Aber bestimmt kann euer Auftraggeber sie euch noch viel besser erzählen. Ich glaube, er weiß, wo das Karussell der Barmherzigen Schwestern geblieben ist. Warum sollte er euch sonst beauftragt haben, den Flügel zu stehlen? Wahrscheinlich dreht es sich nicht, solange dem Löwen der zweite Flügel fehlt.«
»Er ist schon sehr alt«, sagte Prosper. »Es bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, das Karussell zum Laufen zu bringen.«
»Wissen Sie, Signora«, Mosca strich mit der Hand über den Flügel. Das Holz fühlte sich rau an. »Wenn dieser Flügel wirklich zu dem Löwen auf dem Karussell gehört, dann können Sie doch eigentlich nicht viel damit anfangen. Dann können Sie ihn doch auch uns geben, oder?«
Ida Spavento lächelte. »So, könnte ich das?« Sie öffnete die Tür zum Garten und ließ die kalte Nachtluft herein. Eine ganze Weile stand sie so da, mit dem Rücken zu den Kindern, dann drehte sie sich plötzlich um. »Wie wäre es mit einem Handel?«, fragte sie. »Ich überlasse euch den Flügel, damit ihr ihn dem Conte bringen könnt und er euch bezahlt, und dafür…« »Jetzt kommt der Haken«, murmelte Riccio. »Dafür«, fuhr Ida Spavento fort, »folgen wir dem Conte, wenn er sich mit meinem Flügel davonmacht, und finden so vielleicht das Karussell der Barmherzigen Schwestern. Ich sagte ›wir‹, weil ich natürlich mitkommen werde, das gehört mit zu dem Handel.« Gespannt sah sie ihre nächtlichen Besucher an. »Na, was sagt ihr dazu? Ich verlange keinen Anteil an eurer Belohnung. Das Fotografieren bringt mir mehr Geld ein, als ich allein verbrauchen kann. Ich würde nur zu gern einmal dieses Karussell sehen. Kommt schon, sagt ja!«
Aber die Kinder sahen nicht sonderlich begeistert aus. »Wir folgen ihm? Was soll das denn heißen?« Riccio brach sich fast die Zungenspitze zwischen den Zähnen ab. »Ich weiß nicht, dieser Conte ist irgendwie unheimlich«, murmelte Mosca. »Was ist, wenn er uns erwischt? Ich glaube, er könnte ziemlich unangenehm werden.«
»Aber macht euch das Foto denn nicht neugierig?« Ida schloss die Tür zum Garten wieder und ging zurück zu ihrem Stuhl. »Wollt ihr das Karussell nicht auch gern mal sehen? Es soll wunderschön sein!«
»Der Löwe auf dem Markusplatz ist auch wunderschön«, brummte Mosca. »Gucken Sie sich besser den an.«
Da stand Scipio auf. Es war nicht leicht, die finsteren Blicke der anderen zu übersehen, aber er versuchte sein Bestes. »Ich würde das Angebot annehmen«, sagte er. »Es ist fair. Wir kriegen unser Geld, und selbst wenn der Conte bemerkt, dass wir ihm folgen, schneller laufen als er können wir allemal.«
»Ich hör immer ›wir‹«, knurrte Mosca. »Mit ›wir‹ ist es vorbei, du verlogener Angeber. Du gehörst nicht zu uns, du hast nie zu uns gehört, auch wenn du so getan hast.«
»Ja, geh zurück zu dem vornehmen Haus, in dem du lebst!«,
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