Herr der Diebe
herausgesaugt hatte. »Warte mal, Prop.« Riccio war stehen geblieben. Über der Lagune verfärbte sich der Himmel. Es wurde dunkel, obwohl es gerade erst vier Uhr war. Ein paar Touristen standen wie gebannt am Kai und beobachteten, wie die untergehende Sonne das schmutzige Wasser mit Gold überzog.
»Was für eine Gelegenheit!«, flüsterte Riccio Prosper zu. »Bei dem Anblick merken die nicht mal, wenn ich ihnen die Schuhe klaue. Ich brauche bloß ein paar Sekunden. Guck dir die Muscheln an, bis ich zurück bin.«
Er drehte sich um, hatte schon sein unschuldigstes Ichbin-nur-ein–magerer-Junge-und-kann-kein
Wässerchen-trüben-Gesicht aufgesetzt, als Prosper ihn am Kragen festhielt. »Lass das, Riccio«, sagte er ärgerlich, »oder glaubst du, Ida Spavento lässt dich in ihrem Haus schlafen, wenn die Carabinieri dich beim Klauen erwischen?«
»Du verstehst das nicht!« Gekränkt versuchte Riccio sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich will nicht aus der Übung kommen.« Aber Prosper ließ ihn nicht los, und Riccio ging mit einem tiefen Seufzer weiter, während die Touristen den Sonnenuntergang bestaunten, ohne ihr Entzücken mit ihren Geldbörsen bezahlen zu müssen.
An diesem Abend gab es in Idas Haus ein Fest. Den ganzen Nachmittag hatte Lucia, die Haushälterin, gekocht, gebraten und gebacken, hatte Sahne geschlagen und winzige Kuchen vom Blech geschaufelt, Ravioli geformt und Soßen gerührt. Immer wieder lockte ein anderer Duft Victor hinunter in die Küche, aber sobald er zu naschen versuchte, bekam er mit dem Holzlöffel eins auf die Finger. Prosper und Wespe deckten zusammen den Tisch im Esszimmer, während Mosca und Riccio sich von einem Stockwerk ins andere jagten, gefolgt von Lucias kläffenden Hunden. Die beiden waren so ausgelassen und glücklich, sie schienen sich nicht einmal mehr darüber zu ärgern, dass der Conte sie betrogen hatte. »Wir können es doch trotzdem ausgeben«, hatte Riccio gesagt, als Victor ihn gefragt hatte, was sie mit all den Geldbündeln nun vorhatten. Daraufhin hatte Victor fürchterlich geschimpft und verlangt, dass Riccio ihm die Tasche sofort geben sollte. Aber Riccio hatte nur grinsend den Kopf geschüttelt und verkündet, dass er und Mosca die Tasche versteckt hätten. An einem sicheren Ort, wie er sagte. Nicht mal Wespe und Prosper wussten, wo, aber die beiden schien das auch nicht sonderlich zu interessieren.
Also beschloss Victor, sich ebenfalls keine Gedanken mehr über das Falschgeld zu machen, setzte sich auf das Sofa in Idas salotto, naschte Pralinen und versuchte sich zu überreden, nach Hause zu gehen. Um seine Schildkröten zu füttern und etwas Geld zu verdienen. Aber jedes Mal, wenn er sich mit einem Seufzer erheben und verabschieden wollte, brachte Ida ihm ein Glas Grappa oder einen caffè oder bat ihn, Zahnstocher auf den Esstisch zu stellen. Und Victor blieb.
Während es draußen dunkel wurde und der Mond seine Stadt wieder in Besitz nahm, brachte Ida ihr altes Haus zum Leuchten, als solle es dem blassen Mondlicht Konkurrenz machen. Es war unmöglich, all die Kerzen zu zählen, die sie anzündete. Am Kronleuchter über dem Esstisch brannte nur jede zweite Glühbirne, aber das Kristallglas glitzerte so wunderbar, dass Wespe kaum den Blick davon wenden konnte.
»Kneif mich!«, sagte sie zu Prosper, als sie die Teller gedeckt, das Besteck hingelegt und genug Gläser für alle auf den großen, dunklen Tisch gestellt hatten. »Das hier kann nicht echt sein.« Prosper gehorchte. Ganz sacht kniff er sie in den Arm. »Es ist echt!«, rief Wespe und tanzte lachend um ihn herum. Aber selbst ihre Ausgelassenheit konnte den traurigen Ausdruck nicht von Prospers Gesicht scheuchen. Sie alle hatten es schon auf ihre Weise versucht, Riccio mit Scherzen und Mosca, indem er Prosper all die Seltsamkeiten zeigte, die Idas Haus hinter dunklen Türen verbarg. Nichts half, weder Idas Süßigkeiten noch Victors Versicherungen, dass ihm wegen Bo schon noch etwas einfallen würde. Bo war nicht da. Und er fehlte Prosper, wie ihm ein Arm oder ein Bein gefehlt hätte. Es tat ihm Leid, dass er den anderen ihre Freude verdarb mit seinem traurigen Gesicht, er merkte, wie Riccio begann ihm aus dem Weg zu gehen und Mosca die Flucht ergriff, wenn er ihn sah. Nur Wespe blieb weiter in seiner Nähe. Doch wenn sie voll Mitleid versuchte, ihn in den Arm zu nehmen, dann schob er sie schnell weg, rückte die Gabeln auf dem Tisch zurecht oder hockte sich vor ein Fenster und starrte nach
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