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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Gesicht vor! Und so, wie mich mein Wunsch nach unvorstellbarem Reichtum verfolgte, verlor ich die Fähigkeit, mich mit Worten auszudrücken. Mein Körper lehnte sich im wahrsten Sinne des Wortes gegen mich auf. Stellen Sie sich vor: Gedanken ohne Worte! Was für ein Fluch! Am Ende versammelten sich alle Gedanken, all meine Gefühle in dem einen Wort ‚wenn‘!“
    Tajirika hielt abrupt inne und schaute sich um, als wüsste er nicht genau, wo er sich gerade befand; dann begriff er plötzlich, dass er in einer Zelle saß und Njoya vor sich hatte, seinen Inquisitor.
    „Und welche Schritte unternahm Ihr Hexendoktor, um Sie davon abzubringen, dieses Wort herauszubellen?“
    „Er machte mir klar, dass diese Sache mit dem ‚Wenn‘ mit meiner Sehnsucht zusammenhing, weiß zu sein. Officer, ich wünschte mir, ein Weißer zu werden. Es handelte sich um einen ernsten Fall von Weiß-Wahn.“
    Njoya brach in Gelächter aus, hielt sich den Bauch und zeigte mit dem Finger auf Tajirika.
    „Sie? Ein Weißer? Ein weißer Europäer? Mit diesen Lippen, diesem Kräuselhaar und dieser Haut? Und noch dazu diesem Schmerbauch? Wie hat er Sie davon geheilt?“
    „Er machte mir klar, dass ich als armer Weißer enden würde, und irgendwie hat das funktioniert. Ich glaube, mein Weiß-Wahn ist inzwischen völlig weg“, beeilte sich Tajirika hinzuzufügen, obwohl er sich von Njoyas hämischem Lachen etwas gekränkt fühlte.
    „Nun, es ist gut, dass Sie geheilt sind“, sagte Njoya. Er hüstelte ein bisschen und räusperte sich. Jetzt war er wieder ernst und sachlich. „Mr. Tajirika, Sie haben wirklich dazu beigetragen, ein paar Dinge klarzustellen. Und da Sie versichern, mir alles gesagt zu haben, will ich meine Bestes tun. Aber jetzt muss ich Sie verlassen.“
    Nach diesen Worten stand er auf und ging zur Tür.
    „Bin ich jetzt frei?“, rief Tajirika ihm hinterher.
    „Noch nicht“, antwortete Njoya und blieb an der Tür stehen. „Ich werde die Aufnahme unserer Unterredung meinen Vorgesetzten zeigen und ich hoffe, sie sehen, was ich gesehen habe: dass Sie uns ein kleines Fenster zu Ihrer Seele geöffnet haben …“
    Tajirika war ein wenig niedergeschlagen, gleichzeitig aber auch beeindruckt von sich selbst, weil er sich in der Angelegenheit mit dem Geld so clever verhalten hatte. Er hatte einen Zentimeter nachgegeben und war einen Meter vorangekommen. Wenn der Herr der Krähen jetzt das Geld erwähnte, würden Njoya und seine Truppe glauben, er spräche lediglich von ein paar belanglosen Münzen. Und natürlich hatte er nichts bezüglich der Anschuldigung einer Verschwörung durch Machokali eingeräumt und würde das auch niemals tun. Doch schon bald lasteten wieder Betrübnis und Selbstmitleid auf ihm. Warum hatte man das Verhör aufgezeichnet? Er spürte, wie seine Knie nachgaben, und musste sich am Bett festhalten, um nicht umzufallen. Würde er diesen Leidensweg überleben?

Z   W   E   I   T   E   R   T   E   I   L
1
    Solltet ihr, Forscher und Geschichtsschreiber dieses Landes, einmal über diese Ära schreiben, dann hoffen wir, dass ihr nicht überseht, welche Rolle Tajirikas Videobeichte spielte, weniger ihres Inhalts wegen als der Art und Weise, in der Sikiokuu und Kaniũrũ sie aufnahmen. Auch der gewählte Zeitpunkt kann den Lauf der Geschichte und das Schicksal von Nationen beeinflussen, und der Zeitpunkt seiner Freigabe könnte ein noch bedeutsamerer Faktor für den Einfluss des Videos gewesen sein.
    Wie sich herausstellte, erhielt Sikiokuu den Mitschnitt kurz nach einem Anruf aus dem Quartier des Herrschers, die Heimkehr der Delegation stehe unmittelbar bevor, und das war sicherlich nicht die willkommenste Nachricht. Der unmissverständliche Befehl des Herrschers, Nyawĩra bei seiner Rückkehr aus Amerika in Haft vorzufinden, sirrte noch immer in Sikiokuus Ohr wie ein Moskito im Dunkeln. Selbstverständlich hatte man der Verhaftung Nyawĩras immer Priorität eingeräumt, doch nun, nach diesem Anruf, war das Sirren stärker geworden: Sie musste um jeden Preis verhaftet werden. Während er auf das Video wartete und auch jetzt, da er es abspielte, kreisten seine Gedanken nur um sie. Befand sie sich noch im Land oder nicht, lebte sie oder war sie tot? Die Geheimagenten, die das gesamte Land nach ihr durchkämmten, hatten keine verwertbaren Informationen geliefert, und mit einiger Genugtuung dachte er, dass er zumindest so viele Steine im Land umgedreht hatte, wie er konnte. Hatte er einen übersehen?
    Ja, das

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